TRIGUERINHO
Der Herkules-Mythos heute – Buchauszug. Erschienen im Lichtfokus-Magazin Nr. 47 / Herbst 2014
Herakles oder Herkules war der Sohn des Zeus und einer Frau namens Alkmene, eine »Sterbliche«, die Zeus dazu gebracht hatte, ihn zu lieben. Die eigentliche Frau von Zeus, die Göttin Hera, hasste Herkules von Anfang an. Alkmene zeugte mit ihrem eigentlichen Ehemann Amphitryon dann noch einen Sohn Iphikles, den Halbbruder von Herakles. Herakles war also Spross eines Gottes und einer Sterblichen, und Iphikles Nachkomme zweier Sterblicher.
Hera sandte zwei giftige Schlangen, um Herkules zu töten. Aber Herkules war von klein auf, kein gewöhnliches Kind. Am Morgen fand Alkmene ihren Sohn glücklich im Kinderbett gurren und mit den beiden toten Schlangen spielen, die er mit seinen bloßen Händen erdrosselt hatte. Durch diese erste große Tat hatte Herkules nicht nur sein eigenes Leben gerettet, sondern auch das seines Halbbruders Iphikles, der bei ihm schlief.
Mit der Zeit wuchs Herkules zu einem gut aussehenden Mann von unglaublicher Stärke heran. Er konnte mit jeder Art von Waffen umgehen, doch seine Lieblingswaffe war eine Keule, die er aus einem Olivenbaum geschnitzt hatte.
Hera hatte sich damit einverstanden erklärt, dass, wenn Herkules zwölf besondere Aufgaben vollbringen könnte, die von Eurystheus gestellt würden, er zum unsterblichen Gott des Berg Olymp ernannt würde.
Diese Aufgaben waren die zwölf großen Arbeiten des Herkules. Jede von diesen war so gestellt, dass sie eigentlich unmöglich zu vollbringen war, denn Hera wollte unter keinen Umständen, dass Herkules Erfolg hat.
Trigueirinho interpretiert in seinem Buch »Stunden des inneren Wachsens« den Herkules-Mythos ganz neu. Ihm geht es um einen neuen Blick des bewussten Ichs auf unseren seelischen Kern. Das Buch möchte helfen, den Einklang mit einem immer umfassenderen Geist der Einheit und der Universalität zu leben – einem Geist, der die Integration aller Teile unseres Wesens fördert.
Erfahren Sie nun im folgenden Buchauszug mehr von unserem Helden Herkules, zu den Pforten, die er durchschreitet und seiner ersten Arbeit mit den menschenfressenden Stuten:
Die Pforten der Arbeiten
Von Zeit zu Zeit stoßen wir auf eine große Pforte, d.h. wir stehen vor einem neuen Zyklus unseres Lebens, sei es auf der Erdoberfläche oder auf anderen Daseinsebenen. Es ist jedoch nutzlos, den Eintritt durch diese Pforten erzwingen zu wollen: Es steht uns zu, sie zu durchschreiten – sofern wir es so wollen – , wenn sie offen vor uns stehen, was nur dann geschieht, wenn wir für die neue Etappe tatsächlich bereit sind. Hier kommt das in den ewigen Gesetzen zu beobachtende Prinzip zur Anwendung, das besagt, dass der Lehrer erscheint, wenn der Schüler bereit ist.
Folglich symbolisieren die in diesem Buch erwähnten Pforten immer die Möglichkeit des Eintritts in neue Lebensphasen, in neue Erfahrungsfelder. In den hier behandelten Geschichten werden wir auch auf Meister, Lehrer und andere Symbole stoßen, die für unsere Entwicklung und die der Menschheit als Ganzes gleichermaßen von Bedeutung sind. Treten wir alldem mit Schlichtheit gegenüber, damit wir die von Herkules auf der Persönlichkeitsebene durchlaufenen Etappen nicht mit jenen anderen verwechseln, die den bewussten Herkules betreffen, dessen Seele schon frei ist von den Einflüssen des materiellen Lebens.
Man sagt im Allgemeinen, dass es drei Arten von Individuen gibt und dass wir durch sie auch drei Entwicklungsstufen der Seelen unterscheiden können. Der ersten Art gehören jene an, die für die Existenz der Seele, d. h. des höheren Ich, noch nicht erwacht sind; der zweiten Art diejenigen, die für diese Wirklichkeit offen sind und sich wie Wesen in Entwicklung verhalten; die dritte Art besteht aus denen, die bewusst im Licht der Seele leben und daher wissen, dass sie reinkarnierende Wesen sind.
Die Ersteren werden »die dunklen Funken« genannt, die Zweiten »die unbeständigen Lichter« und die Letzteren »die strahlenden Kinder des Lichts«.
Herkules ist ein Wesen, das als »unbeständiges Licht« erwacht ist und nun im Übergang zum Zustand eines »strahlenden Kindes des Lichts« begriffen ist. Die Phase, in der er sich befindet, ist klar, so wie auch der Kampf klar ist, den er mit entschlossenem Willen auf sich nimmt mit dem Ziel, sich zu entwickeln und zu dienen – was sich schließlich auch erfüllt.
Die Geschichten, die nun folgen, setzen ein in der Phase, wo wir »unbeständige Lichter« werden können, d. h. dort, wo wir nicht mehr rein instinktive Menschen, »dunkle Funken«, sind. In dieser Etappe können wir, schon selbstbewusst, den Willen zur Evolution entwickeln und unsere irdische oder menschliche Natur beherrschen. Wie wir sehen werden, gehen alle diese Geschichten von dem Prinzip aus, dass Herkules, der jeden von uns repräsentiert, einwilligt, die eigene menschliche Natur einer Harmonisierung mit dem tieferen Teil seines Wesens zu unterziehen. Von da an bleibt die Evolution nicht mehr in ihrem natürlichen Rhythmus, wie er einem Leben eigen ist, das die meisten Menschen gewöhnlich führen. Es findet, im Gegensatz dazu, eine Art Umschwung statt: Wir beginnen, die Krisen als Lehrstunden anzunehmen, als Lernfaktoren und nicht mehr als unerwünschte Situationen, denen wir – vergebens – ausweichen möchten.
Sind diese Voraussetzungen einmal klar, wollen wir ohne Zögern durch die Pforte treten, die offen vor uns steht. Ich kann bezeugen, dass die Hilfestellungen, die wir während des ganzen Weges erhalten, unzählige sind. Wenn wir jede dieser Geschichten bewusst durchleben und dabei dem Lehrer, der im Zentrum unseres Bewusstseins immer zur Verfügung steht, alle notwendigen Fragen stellen, und wenn wir im Verlauf der Geschichten keine Energie damit verschwenden, uns über vergangene Ereignisse zu beklagen oder sie ständig ins Gedächtnis zurückzurufen, werden wir große Umwandlungen in uns selbst erfahren.
Was den Lehrer betrifft, ist es nicht nötig, ihn unbedingt sehen oder ihm begegnen zu wollen: Er ist hier, auf diesen Seiten, oder dort, in Ihnen, die Sie diese Seiten lesen – er ist überall, auch wenn wir ihn nicht mit physischen Augen sehen. Wenn man es am wenigsten erwartet, macht er sich bemerkbar, indem er sich durch Umstände offenbart, die von höheren Energien hervorgebracht werden, die viel größere Kräfte besitzen als unsere spärlichen bewussten Fähigkeiten. Er kann sich in einem Traum zeigen oder in einer inneren Schauung, oder er kann anwesend werden in einem positiven Gemütszustand, in einer inneren Heilung, die auf unerfindliche Weise geschieht, in einer besonderen Energie, die wir wahrnehmen, oder durch eine zarte, unsichtbare, liebevolle und erneuernde Präsenz.
Wer ist dieser Lehrer? Oder besser, was ist dieser Lehrer? Manche halten ihn für das eigene innere Ich; andere für den Lehrer des inneren Ichs, dies hängt von der Bewusstseinsstufe des Schülers ab. Beide Auffassungen sind wahr, wie es auch wahr ist, dass wir alle – ohne Ausnahme – Schüler sind. Durch stille Reflexion oder durch irgendein intuitives Zeichen können wir in Erfahrung bringen, was für uns die Realität des Augenblicks ist. An bestimmten Stellen dieser Geschichten von Herkules stellt der Lehrer das innere Ich dar; an anderen stellt er noch tiefere Kerne dar oder auch Wesenheiten, die all diese Kerne unterweisen. Wer oder was ist dieser Lehrer? Eigentlich hat dieses Buch nicht die Absicht, das zu enthüllen, sondern es möchte den Leser in erster Linie dazu anregen, selbst Entdeckungen zu machen. Lassen wir also den Schüler selbst versuchen, dasjenige aufzudecken, was ihm verborgen scheint.
Ihm sei jedoch gesagt, dass, wenn wir einmal unsere Schritte nicht mehr verlangsamen noch die Liebe zur Wahrheit verleugnen können und uns auch nicht mehr den Kräften der Trägheit, des Separatismus und des Egoismus hingeben können, dies ein Zeichen ist, dass der Lehrer dabei ist, sich uns zu zeigen.
Wenden wir uns also den Arbeiten des Herkules zu. In der ersten Geschichte werden wir von ihm eingeladen, durch die erste Pforte zu gehen, und wir werden mit den wilden Stuten konfrontiert, die die Sümpfe bewohnen und Menschen fressen. Unsere Aufgabe auf dieser Reise wird es sein, den tiefen symbolischen Gehalt von alldem zu entdecken und auf diese Weise im Bewusstsein zu wachsen. Gehen wir also auf die Pforte zu. Sie steht offen vor uns.
Die menschenfressenden Stuten
Vor Herkules’ Seele steht die erste große Pforte offen. Herausfordernd stachelt die Stimme des Lehrers ihn an loszugehen, den Weg anzutreten. Dies bedeutet den Anfang einer Reihe von Inkarnationen auf der Erde, nach so vielen anderen der Dunkelheit, auf halbbewusster Ebene. Nun beginnt ein neuer Zyklus, bei dem Herkules schon für die Evolution erwacht ist.
Der Held eilt mutig los, ohne dabei eine eitle Zuversicht und die Gewissheit von seinem Erfolg zu verbergen.
In den Sumpfgebieten jenseits der Pforte übt ein von allen gefürchtetes, seltsames Wesen große Macht aus. Es ist gefährlich, dort herumzugehen, da dieses Wesen wilde und äußerst gewalttätige Pferde und Stuten züchtet. Alle fürchten diese Tiere, denn sie vernichten alles, was sie vor sich sehen, und schonen auch Menschen nicht. Sie töten und zerstören die ganze durch menschliche Anstrengung hervorgebrachte Arbeit. Die Jungen dieser Tiere werden immer stärker, wilder und bösartiger geboren, und jener Gewaltherrscher unternimmt nichts, um in ihnen weniger aggressive Eigenschaften zu entwickeln.
Als Herkules diese Inkarnation beginnt, die erste einer noch von einem hohen Grad an Illusion gekennzeichneten Reihe, beauftragt der Lehrer ihn damit, die Stuten einzufangen und jenen Untaten ein Ende zu setzen. Der Befehl, den er erhält, lautet, die betroffenen Gebiete und ihre Bewohner zu befreien.
Herkules hat einen bis dahin unzertrennlichen Freund, mit dessen Hilfe er bei der Durchführung dieser Aufgabe rechnet. Tatsächlich folgt der treue Freund seinen Schritten überall hin, und gemeinsam schmieden sie einen klugen Plan – die Tiere, so stark sie auch sind, haben nicht die Intelligenz des Menschen. So gelingt es ihnen, die Stuten in einen Pferch zu treiben, und nachdem der Held eine jede mit dem Lasso gefangen hat, feiert er fröhlich den errungenen Erfolg.
Dann kommt der Augenblick, sie an einen Ort zu führen, wo sie ihre Aggressivität verlieren könnten, und damit jenes Gebiet von so viel Bedrohung und Unheil zu befreien. Zu diesem Zeitpunkt glaubt Herkules, dass seine Aufgabe so gut wie erfüllt und der verbleibende Rest von geringerer Bedeutung sei. Er ruft seinen Helfer, gibt ihm den Auftrag, die wilden Tiere durch die Pforte hinauszuführen, und entfernt sich von dort, sichtlich stolz über das Getane. Der Freund befolgt den Auftrag sofort und leitet jene letzte Phase ein, die Herkules für die einfachste hält. Der Freund aber hat nicht die gleiche Kraft wie der Held. Im Gegenteil, er ist schwach und wenig gewandt. Außerdem fürchtet er die Aufgabe, obwohl er es nicht zeigt; in der Tat hat er nicht dieselbe Fähigkeit wie Herkules, die Stuten einzufangen, zu binden und ihrer Bestimmung zuzuführen. Als er die gefangenen Tiere fortzuschaffen versucht, wenden sich diese daher gemeinsam gegen ihn und töten ihn. Danach, gewalttätiger denn je, breiten sie sich neuerlich über die Gebiete aus, aus denen sie gerade entfernt worden waren. Die Arbeit beginnt also von vorne.
Tatsächlich lernt Herkules eine wichtige Lektion, und er wird ein wenig weiser und demütiger. Etwas entmutigt durch den Schlag, den ihm der Tod seines Freundes zugefügt hat, nimmt er die Suche nach den Stuten von neuem auf. Wieder gelingt es ihm, sie zu fangen und an einen Ort zu führen, von dem sie nicht entkommen können. Es bleibt jedoch der leblose Körper des Freundes als Zeuge einer unbedachten Handlung.
Der Lehrer kommt ihm zu Hilfe. Er betrachtet die Lage und schickt die gefangenen Tiere zu einem Ort des Friedens; das Volk bedankt sich bei Herkules und sieht in ihm einen Befreier, während der Körper des treuen Freundes vor aller Augen daliegt. Trauer und Enthusiasmus sind typisch für jene Gebiete und jene Sümpfe.
»Ziehe die Lehre aus dieser Aufgabe«, sagt der Lehrer, als alles vorbei ist. Herkules hört ihm aufmerksam zu, denn ihm beginnt der Dienst, der an den Menschen ganz allgemein zu leisten ist, bewusst zu werden. Er sieht an diesem Beispiel, was ihn in Zukunft erwartet. Aber seine Erfahrung ist hier noch nicht zu Ende. Der Lehrer sagt ihm anschließend, dass »die Arbeit zwar ausgeführt wurde« – er hat die Mühe gesehen, mit der Herkules sich ihr gewidmet hat – , »aber sie wurde schlecht ausgeführt.«
Die Worte des Lehrers dringen tief in die Seele des Helden, und in dieser Situation wird die innere Stimme wieder vernehmbar – diesmal um ihm zu sagen, dass er weitergehen und nicht wegen des Geschehenen aufgeben solle. Die Stimme gibt ihm einen neuen Impuls und zeigt ihm die zweite Pforte, bei der eine neue Aufgabe auf ihn wartet. Bevor Herkules sich jedoch auf den Weg macht, beginnt er, über die eben beendete Arbeit nachzudenken.
Über die Arbeit nachzudenken bedeutet für Herkules, eine erkennende Seele zu werden – nach so vielen Inkarnationen der Blindheit und Ignoranz, in denen bestimmte markante Tatsachen, die besser bearbeitet werden könnten, oberflächlich gelebt werden. Sie an diesem Punkt einfach ohne jede Überlegung vorbeiziehen zu lassen, hieße, eine ganze Reihe von Potenzialen nicht zur Entfaltung zu bringen. Es wäre, wie den Sumpf – ein symbolisches Element – sich selbst zu überlassen. In diesem Sinn ist die erste Arbeit ein neuer Anfang.
Eine Reflexion über die Geschichte der wilden Stuten kann das Individuum dazu führen, sich neu zu orientieren, indem sie es über den menschlichen Bewusstseinszustand, in dem sich die Mehrheit befindet, erhebt, hin zu einem anderen, der ihm schon zugänglich ist. Diese Geschichte bietet also eine nützliche Energie sowohl für die Welt der Formen, in der wir inkarniert sind, als auch für die subtile Welt, in der wir unsere Wurzeln haben und hinsichtlich der Energiequalität göttliche Wesen sind.
Wenn das menschliche Wesen zur Mitarbeit mit der Evolution erwacht, wenn es die Phasen hinter sich lässt, die es in seinem normalen, langsameren Rhythmus bis dahin durchlaufen hat, und bereit ist, die Aufgabe zu übernehmen, die Stuten einzufangen, geht es durch die erste Pforte, wo die Seele (repräsentiert durch Herkules) und die Persönlichkeit (der Freund) zusammenarbeiten und ihre Energien vereinen müssen. Ansonsten werden sich bestimmte Aspekte des Denkens, die hier durch die Stuten dargestellt sind, niemals auf das evolutive Ziel konzentrieren können und weiter Verwüstung anrichten, so oft es möglich ist. Man darf jedoch nicht vergessen, dass der Mensch mit der Unterstützung durch seinen bewussteren Teil (d. h. durch den Lehrer) rechnen kann, der immer anwesend war, sich jedoch bis zu einem gewissen Punkt unwahrnehmbar im Hintergrund gehalten hat.
In der Geschichte von Herkules symbolisiert der von dem anmaßenden Herrn beherrschte Sumpf den menschlichen Verstand, der sich an diesem Punkt des Prozesses zu entwickeln beginnt: das denkende und folgernde Element; vergessen wir nicht, dass dieser Verstand im Laufe vieler Inkarnationen Egoismus, Kritik, Grausamkeit und die Neigung zur Geschwätzigkeit in sich aufnimmt. Die Tod bringenden Stuten entsprechen diesen Aspekten des Verstandes: Aspekte, die am Anfang der Begriffe, der Theorien und der konkretesten und selbstverständlichsten Vorstellungen des Menschen stehen, besonders jener, die eingefügt und im Einklang sind mit der in der organisierten Gesellschaft herrschenden Mentalität, also mit der Welt der Sumpf-Gebiete: Gebiete, die fruchtbar und gesund werden können, wenn sie von ihren Unvollkommenheiten befreit werden. Diese Stuten, die in uns allen existieren und Aspekten des Verstandes entsprechen, die Kritik und Zerstörung in sich tragen, sind umwandlungs- und entwicklungsfähig, wenn sie vom „Ort des Friedens“ inspiriert werden – wohin sie geführt werden müssen. Tatsächlich sendet am Ende der Episode der Lehrer die Tiere dorthin. Was bedeutet das?
Wie wir wissen, hat der Verstand zwei Ebenen: Oberhalb jener Ebene, auf der die »Stuten« existieren können, ist er zu Abstraktionen und zum Empfang höherer Ideen fähig und beherbergt während einer ganzen Reihe von Inkarnationen den Lehrer des bewussten Ich, des menschlichen Teils des Individuums.
Wenn dieser menschliche Teil gezähmt wird, bekommt er symbolisch den Sattel, der den Reiter sicher zu tragen vermag. Dies ermöglicht dann einen Kontakt mit seiner höheren Ebene, aus der alles fertig kommt, synthetisch und perfekt und in Übereinstimmung mit den wahren Bedürfnissen des Menschen und der Gruppen, denen er angehört – und nicht nur seinen vermeintlichen Bedürfnissen entsprechend, die nur ein einziges Wesen in Betracht ziehen.
Epochen hindurch waren die Stuten ungezügelt: Der Verstand war grausam und zerstörerisch, weil er noch keinen Kontakt hatte mit dem friedlichen Ort jenseits seiner selbst, dem Ort der Weisheit. Er brachte den Menschen zuerst dazu, seinen eigenen physischen Körper durch unangemessene Gewohnheiten zu zerstören und dann die irdische Natur selbst. Er brachte ihn dazu, seine Beziehungen zu zerstören, vor allem durch die »Stuten« der Geschwätzigkeit. Der höhere Verstand jedoch mit seinem umfassenden, einschließenden und liebevollen Blick ist stärker als die Macht der Trennung und der Kritik, die in dieser ersten Geschichte durch den oben erwähnten Herrn der Sumpf-Gebiete symbolisiert wird. Dieser Herrscher entspricht dem menschlichen Verstandesprinzip in seinem noch nicht entwickelten Zustand.
Diesen Verstand, der kritisiert, eigene Ideen und Theorien hat und der von Vorurteilen verdorben ist, aufzuhalten und auf eine andere Stufe zu heben, ihn dazu zu bringen, das höhere Denken, die Energie der Seele aufzunehmen, und zwar unter Anwendung der eigenen Entscheidungskraft – dies ist die Herkules-Aufgabe, die wir in Angriff zu nehmen haben. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass dies nicht durch eine rein technische Übung errungen werden kann, selbst wenn sie beharrlich durchgeführt wird; das Streben nach innerer Stille und die andauernde Idee, sich zu verwandeln, müssen hinter dem denkenden Verstand immer lebendig sein – auf diese Weise werden die Stuten eingefangen. Das Ideal bleibt im Hintergrund, wie eine schützende Szenerie, während die Chronik des Verstandeslebens wie ein Theaterstück abläuft.
Täuschen wir uns jedoch nicht, indem wir voreilig meinen, die Arbeit sei schon erledigt. Das »Einfangen« des Verstandes ist ein langwieriger Prozess. Zur vollständigen Zähmung des Egoismus sind viel Zeit und Arbeit nötig. Noch mehr Zeit erfordert, wie wir sehen werden, seine Sublimierung auf den überbewussten Ebenen eines jeden von uns.
In Zusammenhang mit dieser ersten Herausforderung, der Herkules entgegentritt, sollten einige weitere wichtige Überlegungen angestellt werden. Während des Einfangens der Stuten gehen wir, so wie der Held, durch einige Krisen, die ganz typisch sind für ein bestimmtes Entwicklungsstadium, wie zum Beispiel die der Selbstüberschätzung. Als Herkules sich für zu bedeutend hält, um Aufgaben zu erledigen, die als alltäglich gelten, wie die gefangenen Stuten wegzuführen, glaubt er, diesen Auftrag jemandem übertragen zu können, der weniger begabt ist als er. Doch der Freund, der ihn begleitet, kann, obwohl er treu ist, nicht mit Herkules verglichen werden, was seine Kompetenz betrifft; dieser bis dahin unzertrennliche Freund ist – wie wir gesehen haben – sein persönliches Ich. Andere, mit neuen Möglichkeiten ausgestattete Teile des Wesens müssen jetzt in den Prozess eintreten. Herkules merkt durch die Geschehnisse, dass Handlungen ohne die Mitarbeit der Energien der Seele in seinem Entwicklungsstadium nicht mehr möglich sind. So entwickelt sich der Verstand nach und nach und lernt, was zu lernen nötig ist.
Herkules ist also ein komplexes Wesen, das daran arbeitet, alle seine Teile zu integrieren, und das im Laufe seiner Erfahrungen eine vollkommene Einheit in sich selbst und seiner selbst mit dem Universum bilden wird.
Jemand hat festgestellt, dass die Retter der Welt langsam arbeiten, weil Zeit für sie nichts bedeutet. So ist es. Wer die Stuten einfängt und sie zum Ort des Friedens führt, wird auch die Energie haben, eines Tages ein Retter zu werden. Dies ist das eigentliche Ziel eines jeden Herkules. ✦
José Trigueirinho Netto, Schriftsteller und Gründungsmitglied des Spirituellen Zentrums Figueira im Südosten Brasiliens. www.trigueirinho.org.br
Von Trigueirinho soeben im Elraanis Verlag erschienen: »Stunden inneren Wachsens – der Herkules-Mythos heute« ISBN: 978-3-934063-79-2 , € 9,50,
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