Gott – vom Mythos zur Realität

ANSSI

Erschienen im Lichtfokus-Magazin Nr. 47 / Herbst 2014

 

Stell dir vor, du wärest noch ein Kind. Ein Kind, das noch nie den Klang des Wortes »Gott« vernommen hat. Eines Tages hörst du einen Erwachsenen jenes Wort gebrauchen, und du fragst dich zum allerersten Mal: Was ist das? Was ist Gott? Ich bitte dich von Herzen, diese neutrale Haltung zu bewahren. Zumindest solange du diesen Artikel liest. Vergiss für einen Augenblick, was du mit Gott verbindest. Denn man kann den Begriff sehr unterschiedlich gebrauchen.
In diesem Artikel stelle ich vier Perspektiven vor.

 

Die glaubensorientierte Perspektive

Fangen wir mit dem gängigsten Modell an: dem Glauben an Gott. Das ist die bekannteste und verbreitetste Perspektive. Das ist jene Perspektive, die wir im allgemeinen Verständnis meinen, wenn wir von Gott sprechen.

Im klassischen Religionsverständnis setzen wir Gott an den Anfang. Nicht nur an den Anfang der Schöpfung, sondern auch an den Anfang unserer Erkenntnisbemühungen. Wir beginnen immer mit einer Definition. Wenn ein Kind fragen würde, was Gott ist, dann würden wir im klassischen Religionsverständnis eine Beschreibung abgeben. Statt von einer Beschreibung können wir auch von einer Definition sprechen. Mit anderen Worten: Wir beginnen damit, dass wir das Wort Gott mit anderen Wörtern verbinden. Wir bilden eine mentale Assoziation. Wir verbinden Gott mit einem Konzept, einem Bild, einer Vorstellung oder einer Geschichte.

Würde das Kind jetzt nachhaken und fragen: Ja, aber wo ist dieser Gott? Zeig ihn mir. Einen Baum kann ich sehen, aber wo ist Gott? Was würde man darauf antworten?
Vieles. Aber letztendlich würde man bei einem Mythos landen. Im Grunde also bei einer Geschichte wie bei dem Weihnachtsmann oder dem Osterhasen. Ein Mythos eben. Das haben alle Weltreligionen gemeinsam. Sie haben gemeinsam, dass sie eine Geschichte erzählen, die keinerlei objektiven Nachweis liefert. So landet man notwendigerweise beim Glauben.
Der Glaube kann für viele Menschen ein Trost sein. Man kann sehr viel Kraft aus dem Glauben beziehen. In der Tat gibt es einige Studien, die belegen, dass gläubige Menschen, unabhängig von ihrer jeweiligen Religionszugehörigkeit, sehr viel besser mit Krisen und Krankheiten zurechtkommen. Teilweise sogar schneller genesen.

Ich will den Wert des Glaubens also weder schmälern noch hervorheben, sondern nur deutlich machen, dass dieses Gottesverständnis beim Glauben stehen bleibt. Es reicht nicht über einen Mythos hinaus. Verständlicherweise gibt es daher auch eine Gegenbewegung. Denn wo Glaube ist, ist auch Zweifel.

 

Die atheistische Perspektive

Atheisten lehnen den Glauben an den Mythos Gott ab. Sie können zwar nicht wirklich nachweisen, dass es keinen Gott gibt – wie sollte man für eine Geschichte auch einen Gegenbeweis erbringen – aber sie geben sich nicht mit dem Mythos zufrieden. Ganz nach dem Motto: Was man nicht messen oder wahrnehmen kann, gibt es auch nicht.

Spaßeshalber sei erwähnt, dass es im US-amerikanischen Raum eine Studie gab, bei der man herausfinden wollte, welche Berufsgruppen besonders religiös bzw. atheistisch geprägt sind. Die Studie kam zu einem verblüffenden Ergebnis.
Die Berufsgruppe mit den meisten Atheisten waren Psychologen. Erstaunlich genug, könnte man meinen, da es gerade jener Berufszweig ist, der sich mit der so viel zitierten Seele beschäftigt. Aber es kommt noch besser. Die Berufsgruppe mit den meisten Religionsangehörigen waren ausgerechnet Physiker!
In der Tat findet man sogar unter den Nobelpreisträgern der Physik tiefreligiöse Menschen, obwohl sie oft nichts mit der Kirche anfangen konnten. Doch lassen wir die großen Wissenschaftler selbst sprechen. Diese Zitate könnten zum Nachdenken anregen:

 

»Die Naturwissenschaften braucht der Mensch zum Erkennen, den Glauben zum Handeln. Religion und Naturwissenschaft schließen sich nicht aus, wie heutzutage manche glauben und fürchten, sondern sie ergänzen und bedingen einander. Für den gläubigen Menschen steht Gott am Anfang, für den Wissenschaftler am Ende aller Überlegungen.«
Max Planck, Nobelpreisträger Physik

 

»Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch, aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott.«

Werner Heisenberg, Nobelpreisträger Physik

 

»Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft ist blind.«

Albert Einstein, Nobelpreisträger Physik

 

Wie man sieht, ist jemand mit einem scharfen, rationalen Intellekt nicht notwendigerweise atheistisch. Atheismus lebt eigentlich nur von dem Mythos Gott. Gebe es diesen Mythos nicht, gäbe es auch keinen Atheismus. Der Atheismus ist eigentlich keine echte Perspektive. Er hat keinen eigenen Standpunkt. Er ist nur die Ablehnung einer Perspektive.
Aber wenn so intelligente Menschen wie die oben genannten Wissenschaftler an Gott glauben, dann stellt sich die Frage, ob es nicht eine völlig andere Perspektive gibt. Eine Perspektive, die nicht bei einem Mythos stehen bleibt. Vielleicht ist ja mehr dran an Gott, als man es vermutet.
Doch bevor ich darauf eingehe, möchte ich der Vollständigkeit halber ein Gottesbild zeichnen, das aus einer ganz anderen Ecke kommt. Aus einer anderen Ecke des Universums.

 

Die außerirdische Perspektive

Man mag davon halten, was man möchte, aber spätestens seit Erich von Dänikens Buch: »Erinnerungen an die Zukunft«, das mittlerweile über 60 Millionen Mal gedruckt wurde, taucht der Begriff Gott auch in einem ganz anderen Zusammenhang auf. Dieser Darstellung zufolge waren Götter außerirdische Wesen oder Wesen aus einer anderen Dimension. Wesen, die in früheren Tagen die Erde besucht hatten beziehungsweise schon immer hier gewesen waren.

Schaut man sich archäologische Funde oder alte Bauwerke an, wie zum Beispiel die ägyptischen Pyramiden, stößt man auf viele Widersprüche. Widersprüche, die sich mit unserem gängigen Geschichtsbild und unserer Auffassung vom damaligen technischen Fortschritt nicht vereinbaren lassen.
Am Rande des wissenschaftlichen Mainstreams zeigen Forscher verblüffende Dinge auf. Zum Beispiel können sich viele Ingenieure bis heute nicht erklären, wie man die Pyramiden so exakt und präzise ausgerichtet bauen konnte. In der Tat könnten Ingenieure mit dem heutigen Stand der Technik sie nicht nachbauen.
Man findet auch Bauweisen von Pyramiden vor, wo kein einziger Stein dem anderen gleicht. Die einzelnen Steine, aus denen die Pyramide zusammengesetzt wurde, haben unterschiedliche Maße und Formen. Jeder einzelne Stein ist anders. Jeder. Dennoch bilden sie zusammen eine perfekte geometrische Form und passen alle exakt ineinander, so dass nicht einmal eine Rasierklinge dazwischen passt. Wie ist das zu erklären?
Man findet alte Steine mit Bohrungen, die modernste Technik voraussetzen. Man findet dermaßen glatt polierte Steine, dass man aufgrund des Härtegrads Lasertechniken benötigen würde, um entsprechende Ergebnisse zu erzielen. Wer hat die Pyramiden wirklich gebaut?
Ein weiteres Rätsel bilden die sogenannten Megalithen. Das sind große, tonnenschwere Steine, die für den Bau der ältesten uns bekannten Tempel verwendet wurden. Genau genommen: Je älter die Tempel sind, desto größer und schwerer sind die Steine. Diese Steine sind teilweise so schwer, dass selbst heutige, modernde Transportmittel sie nicht von A nach B bewegen können. Die Bauwerke wurden aber vor mehreren tausend Jahren erbaut.
Es stellt sich also die berechtigte Frage, was das für Menschen gewesen sein sollen. Waren die Bauherren überhaupt menschliche Wesen?
In den Überlieferungen und Sagen der Urvölker findet man übereinstimmende Hinweise auf Wesen, die von den Sternen kamen. Man findet auch Texte, Malereien und Skulpturen, unter anderem bei den Sumerern, die außerirdisches Leben zumindest vermuten lassen. Und man nannte sie Götter.
Sind die wahren Götter Außerirdische?

Wie gesagt, man kann dem Glauben schenken oder nicht. Ich selbst habe dazu keine abschließende Meinung. Es ist eher eine Forschungsfrage mit offenem Ende. Doch darum geht es hier nicht. Ich will nur darauf aufmerksam machen, dass das Wort Gott in ganz verschiedenen Zusammenhängen gebraucht wird.
Kommen wir daher wieder zurück auf die Erde, um von dort aus in einen ganz anderen Himmel emporzusteigen. Den Inneren.

 

Die mystisch-spirituelle Perspektive

 

Es gibt zwei Arten von Religion: die glaubensorientierte Religion und die mystisch-spirituelle Religion. Alle Weltreligionen sind in erster Linie glaubensorientierte Religionen. Doch sie alle haben auch einen mystisch-spirituellen Zweig, um nicht zu sagen Ursprung.
Diese beiden Formen der Religion, die glaubensorientierte und die mystische, darf man nicht in den selben Topf werfen, denn sie haben eine diametral entgegensetze Perspektive auf den Gottesbegriff.

Die glaubensorientierte Religion stellt den Gottesbegriff an den Anfang. Sie zeichnet erst ein Bild, eine Vorstellung oder eine Idee von Gott und fordert dann auf, daran zu glauben. Dort endet sie dann auch, ohne jeglichen Nachweis über die tatsächliche Existenz Gottes zu erbringen.

Die mystisch-spirituelle Religion dagegen setzt Gott ans Ende eines Erkenntnisweges. Sie beantwortet also im Vorfeld nicht die Frage, was Gott ist. Stattdessen lädt sie dazu ein, eine Erfahrung des Göttlichen zu machen. Nicht durch die intellektuelle Auseinandersetzung, nicht durch Glaubensbekenntnisse, nicht durch das Studium, sondern durch die Anwendung bestimmter spiritueller Praktiken. Mit anderen Worten: In der mystisch-spirituellen Religion ist Gott eine Unbekannte, ein schwebender Begriff, bis man eine bestimmte Erfahrung macht. Hier ist Gott eine Erfahrung, kein Glaube. Kein Mythos, sondern etwas sehr Reales.
An eine Erfahrung kann man nicht glauben oder sie verehren, so wie es die Gläubigen tun. Man kann sie auch nicht ablehnen, so wie es die Atheisten tun. Man kann sich nur entscheiden, bestimmte Praktiken anzuwenden, um selbst herauszufinden, ob diese Erfahrung tatsächlich existiert. Man kann sich natürlich auch dagegen entscheiden, nur bleibt Gott aus der mystisch-spirituellen Perspektive in diesem Fall eine Unbekannte. Denn es ist kein Gott des Glaubens, sondern ein erlebbarer Gott der Erfahrung.

SufiDanceDer Glaube an ein Gottesbild ist in dieser Perspektive daher absolut überflüssig. Damit wird auch der Vermittler zwischen Mensch und Gott, der Priester, überflüssig, weshalb der mystisch-spirituelle Zweig, insbesondere von der katholischen Kirche, stark bekämpft wurde. Siehe Inquisition. Die Mystik war der Kirche schon immer ein Dorn im Auge. Denn sie bedrohte stets ihre Macht. Sie führt die Kirche und die Priesterschaft ad absurdum.

Dennoch gibt es auch in der mystisch-spirituellen Tradition Lehrer. Lehrer, die nicht vermitteln, was Gott ist und wie dieser zu verehren sei, sondern Praktiken für die göttliche Erfahrung lehren. Sie zeigen eine innere Reiseroute auf, um zur Gotteserkenntnis zu gelangen.
Von diesen Praktiken gibt es viele. Je nach Tradition lassen sich verschiedene Wege aufzählen. Die Zen-Meditation »Zazen« wäre ein Weg. Bestimmte christliche Gebete sind ein Weg. Es gibt den Weg der Selbsterforschung, bei dem ein Lehrer dem Schüler direkte Hinweise gibt, wie man eine tiefere Realität im Hier und Jetzt wahrnehmen kann. Die Wege sind unterschiedlich und zahlreich.

Doch alle mystisch-spirituellen Wege haben Folgendes gemeinsam: das Ziel. Alle führen zum selben Ergebnis. Manche nennen dieses Ziel Selbsterkenntnis. Andere sprechen von Gotteserkenntnis. Wieder andere sprechen von Erleuchtung, Erwachen, Nirwana, Samadhi oder Moksha. Oder schlichter: von Wahrheit oder Bewusstsein. Jedoch gelangen alle Mystiker zum selben Ziel beziehungsweise zur selben Erfahrung. Nur die Praktiken und Begriffe sind unterschiedlich.
Die mystisch-spirituelle Religion ist in der Tat so etwas wie eine Universalreligion, denn sie kommt trotz unterschiedlicher Wege immer zum selben Schluss. Anders als die Weltreligionen sowie alle anderen glaubensorientierten Religionen stehen sie nicht im Widerspruch zueinander. Man streitet sich nicht um den richtigen Gottesbegriff oder über die rechte Art der Frömmigkeit, denn es gibt schlicht keinen Gottesbegriff. Gott wird nicht definiert, sondern real erlebt. Und über das, was man real erlebt, kann man nicht diskutieren oder nach Belieben auslegen. Man kann es nur innerlich erfahren.
Hier ein paar Zitate, die verdeutlichen, dass Menschen unterschiedlicher Wege, Zeiten und Kulturen zur selben Erfahrung gelangt sind. Man beachte die Gemeinsamkeit aller fünf Zitate:

 

»Wenn das Selbst erkannt wird, wird Gott erkannt.
Tatsächlich ist Gott nichts anderes als das Selbst.«
Ramana Maharshi, hinduistischer Mystiker, 19.–20. Jh.

 

»Warte, bis du dich selber blickst.
Erkenne, was dort wächst.
O Suchender.
Ein Blatt in diesem Garten
Bedeutet mehr als alle Blätter,
Die im Paradies du findest«

Rumi, islamischer Mystiker, 13.Jh.

 

»Das Auge, mit dem mich Gott sieht, ist das Auge, mit dem ich ihn sehe. Mein Auge und sein Auge ist eins.«

Meister Eckhart, christlicher Mystiker, 13.–14. Jh.

 

»Innerhalb unserer tiefsten Einsamkeit, wo wir Abschied nehmen von jedem Bild und jeder Idee von uns selbst sowie von Gott, kommen wir zur Fülle unseres Seins. Und in dieser Fülle des Seins erkennen wir die Göttlichkeit aller Dinge, egal wie groß oder klein sie sind.«

Adyashanti, Zen-Meister, 21. Jh.

 

»Das Reich Gottes ist in dir und um dich herum, …«

Jesus Christus

 

Die großen religiösen Figuren, wie Jesus oder Buddha, waren keine Begründer glaubensorientierter Religionen. Das wird uns nur erzählt. Das haben nachfolgende Priester und Politiker aus den Lehren gemacht. Die Lehren wurden verkehrt, für politische Zwecke instrumentalisiert oder einfach missverstanden.

In Wahrheit waren die großen Meister Vertreter einer erfahrungsorientierten, mystisch-spirituellen Religion. Jesus, Buddha, Krishna, Laotse, Mohammed, Shankara, Patanjali, Zarathustra, Ramana Maharshi und viele anderen lehrten alle das Gleiche: wie man die Erfahrung des Göttlichen macht. Nur die Begrifflichkeiten und Praktiken sind unterschiedlich, aber nicht das Ergebnis. Alle führen zum selben Gott.

Gott ist wahrlich in uns selbst verborgen. Gott ist nicht nur ein Mythos, sondern Realität. Ob man sich auf den Weg machen möchte, um diese Realität wahrzunehmen, bleibt natürlich einem selbst überlassen. ✦

In Liebe — Anssi

 

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