SIRIO
Erschienen im Lichtfokus-Magazin Nr. 47/ Herbst 2014
Warum beschreiben Mystiker Gott oft so unterschiedlich? Warum verkünden Juden, Christen, Moslems, Zoroastrier, Hindus, Jains, Buddhisten, Sikhs, Radhasoamis, Bahais, Nirankaris und so weiter ganz verschiedene Lehrmeinungen, und warum verwenden sie doch recht unterschiedliche Theologien?
Man kann feststellen, dass es sowohl Ähnlichkeiten bei all den obigen Glaubensbekenntnissen, aber auch viele Unterschiede gibt.
Die Leute fühlen sich im Allgemeinen sicher, wenn ihnen gesagt wird, dass Gott Einer ist und für alle Menschen auf der Welt der selbe; dass wir den gleichen Gott mit verschiedenen Namen und Formen anbeten und verehren. Wir akzeptieren, dass Gott Liebe ist, dass er der gute, sich sorgende Vater-Mutter von uns allen ist, dass Er alles mögliche Gute für seine Schöpfung tut und dass alles Schlechte, was in der Welt und dem Universum geschieht, von einer negativen Kraft bewerkstelligt wird, welche in den einzelnen Traditionen unterschiedlich bezeichnet wird. Es gibt Lehrmeinungen, welche diesen Unterschied, diese Aufteilung der Realität, diese Dualität, diesen Traum und diese Täuschung lebendig erhalten wollen. Wir alle, all die Religionen, sind gerne bereit, zu erklären, dass Gott allmächtig, allwissend, alldurchdringend, alles bewirkend und der Schöpfer von allem ist, und doch glauben die meisten, dass es eine negative Kraft gäbe, welche sogar irgendwie mächtiger ist als Gott, indem sie vor den Augen des mächtigen Gottes tut, was sie will.
Ich frage also: Ist Gott nun allmächtig oder nicht? Ich denke, sogar ein kleines Kind könnte diese Frage stellen, wenn wir ihm eine solche Geschichte erzählten.
Nun, ich glaube, dass Gott alles bewirkt: Das, was scheinbar gut, aber auch, was scheinbar schlecht ist. Das, was uns günstig erscheint, und jenes, was für uns unangenehm ist.
Ich meine, dass jede intelligente Person objektiv darin übereinstimmen würde, dass wir oft viel mehr aus Schwierigkeiten und Leiden lernen als in einfachen und erfreulichen Perioden unseres Lebens. Wenn wir in den angenehmen Zeiten lernen und uns verbessern könnten, würden die schlechten Zeiten vielleicht gar nicht erst kommen. Für mich ist daher Gott Brahma, Vishnu und Shiva, und damit meine ich, dass er der Schöpfer ist, derjenige, der das Leben erhält und es wieder zerstört. Er bewirkt alles, und Er Selbst steht auch weit über seinen Manifestationen. Er ist Zeit und Ewigkeit zugleich, Er ist positiv und negativ, Er ist männlich und weiblich, Leben und Tod, Er ist »dukh aur sukh« (Sorge und Freude) etc.
Wir haben seit undenkbaren Zeiten vernommen, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde schuf, ihm ähnlich. Dies ist wahr, aber wahr ist auch das Gegenteil, dass der Mensch Gott ihm ähnlich machte, und so kann man sagen, dass es so viele Konzepte über Gott gibt, wie Menschen auf diesem Planeten leben. Im Hinduismus sagte man, dass es viele Götter, für jeden Menschen einen gibt. Die Hindus glauben auch, dass jeder Mensch sich seinen Ishta Deva, also den auserwählten persönlichen Gott, selbst aussuchen kann. Dies bewirkt Freiheit und Respekt für die Meinung anderer.
So erhebt sich die Frage: Wenn Gott Eines ist, warum erfahren ihn die Menschen dann auf so unterschiedliche Art und Weise? Paul Brunton pflegte zu sagen, dass Gott eine flüssige Substanz ist, die die Art und Weise, wie seine Ergebenen ihn verehren dahingehend würdigt, indem Er ihnen so erscheint, wie sie ihn sich vorstellen. Mit anderen Worten; Er passt sich den Vorstellungen von ihm in unserem Gemüt an. Wenn also ein Hindu eine Vision Gottes bekommt, so mag er oder sie ihn als Vishnu, Krishna, Mahesh, Kali, Durga, Lakshmi, Parvati etc. wahrnehmen. Auch bei den Buddhisten gibt es so viele, oft große unterschiedliche Lehrmeinungen oder Philosophien ihrer Religion, je nach dem Land, wo sich der Buddhismus entwickelte. Wenn wir einen tibetischen Buddhisten, einen Zen-Buddhisten aus Japan und einen aus der Theravada-Tradition nehmen, werden wir feststellen, dass sich ihr Verständnis der gleichen buddhistischen Religion sehr voneinander unterscheidet. Sogar im gleichen Land wie z.B.Japan gibt es buddhistische Richtungen mit einer ganz unterschiedlichen Interpretation ihres Glaubens, ebenso gibt es bei den Tibetern diverse buddhistische Lehrmeinungen.
Auch werden wir erstaunt sein, wie viel Feindschaft zwischen den verschiedenen christlichen Gruppierungen vorherrscht. Sie alle folgen dem selben Propheten, dem selben Sohn Gottes, aber wegen geringer Unterschiede in ihren Lehrmeinungen kritisieren und hassen sie sich.
Im Islam ist es nicht anders: Zwischen Sunniten und Schiiten gab es von Anfang an so viel Hass und Gewalt.
Und was lernen wir nun daraus?
Mein Meister Kirpal sagte immer, dass die Religion zwei Seiten hat: die innere, spirituelle, mystische oder esoterische und die exoterische, welche sich mit der sozialen Lebensweise befasst. Dies betrifft all jene Riten und Rituale, die das Leben in einer Gesellschaft anbelangt, wie geboren zu werden, verschiedene Lebensalter zu erreichen, zu heiraten, das Sterben etc. Er sagte, dass bei Betrachtung der äußerlichen Seite es so viele Unterschiede gibt, doch was die innere Seite betrifft, mag sie sich in ihrer Form, aber nicht ihrer Substanz nach unterscheiden.
Das bedeutet, dass Menschen verschiedener Religionen, die eine innere Erfahrung haben, wenn sie nach innen gehen, oftmals Visionen des segensreichen Lichtes Gottes haben, und wenn das Licht dann Form und Gestalt annimmt, wird dies in der Gestalt der Gottheit sein, welche sie verehren. Manchmal sehen Menschen verschiedene Meister aus der Vergangenheit, Landschaften, verschiedene Arten von Blumen (Lotos oder Rosen), Mandalas oder Yantras. Es gibt Menschen, die dazu neigen, seine Gegenwart sehr intensiv und tiefgehend wahrzunehmen, aber sonst überhaupt nichts sehen oder nur einen leuchtenden Raum gleich welcher Farbe, oft golden oder weiß. Es gibt Leute, welche sich vollkommen vom physischen Körper zurückziehen und sich weit von ihm entfernen, und andererseits gibt es Menschen, die sehr tief in den Körper einzutauchen scheinen und auf diese Weise alles darüber vergessen und in einen äußerst erweiterten Bewusstseinszustand gelangen. Vor kurzem kam ein mir lieber Freund und Schüler Meister Kirpals aus den USA zu einem rein persönlichen Retreat hier zu mir in den Ashram, und er berichtete mir von eben diesem Phänomen, das er erlebt hatte. Ich habe Leute gesehen, die ihren Körper über Stunden verließen und ich weiß von Schülern meines Meisters, bei denen dies über mehrere Tage lang der Fall war.
Als ich das erst Mal mit Satguru Kirpal im Jahre 1973 meditierte, erfuhr ich, wie sich meine Seele vom physischen Körper zurückzog und in das innere Licht eintauchte. Es ereignete sich ganz spontan wie etwas sehr Natürliches, als ob ich schon jahrelang meditiert hätte. Ich dachte, dass dies bei jedem, der mit einem Satguru meditiert, so wäre. Doch da lag ich falsch, denn später verstand ich, dass es Menschen gibt, die selbst vielen Jahren auf dem Weg nicht eine solche Erfahrung haben. Man kann sagen, dass es Leute gibt, die in vergangenen Lebensläufen viel meditiert haben und für sie ist es sehr einfach, so wie bei mir, während andere, die in diesem Leben ihre spirituelle Reise beginnen, feststellen, dass es ihnen schwerer fällt, tief nach innen zu gehen. Es gibt Kinder, die sehr leicht Klavier, Gitarre oder die Sitar spielen lernen. Warum? Weil sie das schon einmal gelernt haben, sie brauchen sich nur daran instinktiv zu erinnern und es nicht neu zu erlernen.
Es gibt so viele Möglichkeiten, wie sich Gott uns offenbart, aber inzwischen, nach so vielen Jahren auf dem spirituellen Weg, kann ich sagen, dass die Art und Weise und Intensität, wie Er sich manifestiert, sehr davon abhängt, wie unser Entwicklungsstand ist und die mentalen Eindrücke in unserem Gemüt, welche wieder auf unserem kulturellen und religiösen Hintergrund beruhen. Ich bin mir sicher, dass ein Atheist mit innerer Erfahrung keine Formen oder Gestalten wahrnehmen wird, sondern eine formlose Ausdehnung des Bewusstseins empfindet.
Vivekananda fragte Ramakrishna (seinen Meister) als Agnostiker bei ihrer ersten Begegnung: »Meister, hast du Gott gesehen?« Ramakrishna antwortete: »Ja, mein Sohn, ich sehe ihn, so wie ich dich hier sehe, nur viel klarer.« Als das Leben Ramakrishnas zu Ende ging, denn er litt stark unter einem Kehlkopfkrebs, befand sich Vivekananda in einem anderen Zimmer des gleichen Hauses und war voller Kummer wegen des Leidens seines Meisters, und er dachte bei sich: Wenn er in diesem Leiden erklären würde, dass er ein Avatar (eine göttliche Inkarnation) ist, werde ich ihm glauben.« Vom anderen Zimmer aus sprach Ramakrishna auf einmal: »Derjenige, der Rama und Krishna war, lebt jetzt in diesem Körper des Ramakrishna.« So kam das Gemüt Vivekanandas zur Ruhe.
Es gibt ein wunderschönes Gedicht des ehrwürdigen Maulana Rumi, welches ich hier mit dem Leser teilen möchte:
Ich bin weder von dieser Welt noch der nächsten,
noch komme ich vom Himmel oder dem Fegefeuer.
Mein Platz, es ist der ohne einen Ort,
meine Herkunft ist ohne Anfang,
ich bin weder Körper noch Seele,
denn meine Seele gehört meinem Geliebten.
Ich habe die Dualität weggeworfen
und beide Welten als eine erfahren,
die eine, die ich suche, die andere, die ich kenne.
die eine, die ich sehe, die andere, die ich anrufe,
Er ist das Erste und das Letzte.
Er ist in mir und auch außerhalb von mir.
Ich kenne nur Ihn, nichts ist von Ihm getrennt.
Berauscht durch den Kelch der Liebe
entgleiten die zwei Welten meinen Händen …
Es gibt viele Leute, die sich einer tiefgehenden Transformation unterzogen haben und so ihr Leben sehr änderten. Es sind meist solche, die auf irgendeine Weise eine Schau der Göttlichkeit erfuhren.
In diesen 42 Jahren auf dem Weg habe ich so viele Beschreibungen und Geschichten von Menschen mit ganz unterschiedlichen Gotteserfahrungen gehört. Ich gebe die Einweihung auf diesem Weg seit 37 Jahren und habe so viele Berichte von Menschen zur Zeit ihrer Einweihung und bei anderen Gelegenheiten gehört. Ich darf sagen, dass keine der anderen glich; sie ähnelten sich, doch waren sie nie identisch. Ich selbst habe viel meditiert und viele wundervolle Erfahrungen von der Nähe Gottes oder der Wahrheit.
Um ehrlich zu sein, kann ich die erstaunlichsten dieser Erlebnisse nicht zum Ausdruck bringen, weil sie sich in einem so erhobenen Bewusstseinszustand abspielten, dass es mir nicht möglich ist, beim Zurückkommen in das normale Körperbewusstsein, korrekt zu erinnern und in Worte zu kleiden. Es ist so wie Meister Kirpal einen anderen Lehrer zitierte: »Als ich Deine Schönheit versuchte zu beschrieben, zerbrach die Feder in tausend Stücke, und das Papier ging in Feuer auf.« Sehjo Bhai, eine Mystikerin aus Rajasthan pflegte über den Glanz Gottes oder ihren eigenen Meister zu sagen: »Wenn die Erdoberfläche das Papier wäre, die Bäume der Wälder meine Feder und das Meerwasser die Tinte, wäre ich doch nicht in ausreichend in der Lage, den Glanz Gottes und die in meinem Meister offenbarte Größe Gottes zu beschreiben.«
Kabir sagt: »Unterscheidet nicht Rama von Allah, wenn ihr nicht wollt, dass die Lehre eures Glaubens euch ins Unglück führt. Es ist der gleiche Gott, der Himmel und Hölle erschuf, der uns mit seinem Glanz durchdringt. Vergesst also die Unterschiede im Glauben und kommt zusammen, um von seinen Tugenden zu singen.« In einem anderen Gedicht sagt er uns: »Die Berge des Himalayas sind nur Staub unter seinen Füßen, die sieben Meere können nur meine Augen benetzen. Sein Fingernagel reicht aus, all die Berge dem Erdboden gleich zu machen. Der höchste Herr hält Himmel und Erde zusammen und all die Götter singen von seinem Ruhm und seiner Macht. Kabir sagt: Das grenzenlose Wesen kann in Wirklichkeit nicht mit Versen oder Worten beschrieben werden.
Nun gut, dies möge der letzte Vers Kabirs sein, bevor ich mit diesem Artikel ende, und wisst ihr warum? Weil, so wie er uns an anderer Stelle sagt, alle heiligen Bücher nichts als ein Haufen Worte sind.
Es ist also nicht so sehr wichtig, viel über Gott zu lesen, welcher unbeschreiblich ist, sondern ihn zu erfahren, es ist nicht so wichtig, an Ihn zu glauben, als ihn zu erfahren, nicht so sehr ein Christ, sondern ein Christus zu sein, kein Buddhist, sondern ein Buddha, kein Moslem, sondern ein Mohammed, kein Hare Krishna, sondern ein Krishna.
Lest nicht nur darüber, sondern erlebt und praktiziert es selbst in der Gemeinschaft mit einem spirituellen Lehrer. ✦