Göttliches Bewusstsein

Mystische Atmosphäre in der Dorfkirche

 

von Peter Maier

Zu Beginn der Fronleichnamsprozession baten mich drei ältere Jungen, die im Glockenturm standen, ihnen beim Läuten der vier Glocken zu helfen. Da ich die Jungen nicht näher kannte und weil mir das Läuten, das damals noch von Hand geschah, vollkommen fremd war, lehnte ich ab. Als ich dann jedoch während der Prozession das beeindruckende und festliche Glockengeläut hörte, ärgerte ich mich, dass ich so blöde gewesen war und das Angebot abgelehnt hatte.

 

Darum suchte ich bereits einige Tage später nach einer Gelegenheit, doch noch ans Läuten zu kommen. Dazu musste man mit einem langen Strick, der im Kirchturm bis zum Glockenstuhl hinaufreichte, eine Glocke zum Läuten bringen – eine aufregende Sache für einen achtjährigen Jungen. Bereits um 6.30 Uhr gab es in unserer Pfarrgemeinde jeden Morgen die erste Frühmesse, um 7.00 Uhr die zweite. Daher ließ ich mich von meiner Mutter bereits um 6.00 Uhr wecken und fuhr mit dem Fahrrad zur Kirche ins Dorf, um rechtzeitig um 6.25 eine der beiden Glocken läuten zu können, die zur Frühmesse riefen. Einer der beiden Messdiener, die offiziell zum Läuten kamen, ging leer aus. Ich wollte läuten und ich gab den Glockenstrang nicht mehr her. Glockenläuten machte mächtig Spaß, vor allem auch deshalb, weil ich damit einen beachtlichen „Lärm“ erzeugen konnte. Das gleiche Erlebnis wiederholte sich beim Läuten zur zweiten Frühmesse kurz vor 7.00 Uhr. Drei Jahre lang fuhr ich jeden Werktag frühmorgens zur Kirche.

Zwischen den beiden Läuten gab es eine sogenannte „Stille Messe“, die von dem Co-Pater unserer Pfarrei gehalten wurde. Nur etwa fünf Personen saßen in der Regel in den Bänken. Die Kirche war also auch während der Messe ein großer leerer Raum. Im Sommer ging um diese Zeit die Sonne auf und beleuchtete die bunten Ostfenster. Diese warfen ein magisches Licht in die Kirche, in der sich in völliger Ruhe eine priesterlich-magische Handlung abspielte.

Eines Morgens passierte „es“ während einer solchen Frühmesse: Ich verschmolz unvermittelt mit der mystischen Atmosphäre in dieser lichtdurchfluteten stillen Kirche. Ich selbst war Teil dieses Kirchenraums und dieser magischen Stimmung, fühlte mich abgrundtief geborgen und die Zeit schien stehenzubleiben. War ich glücklich? Ich würde eher sagen, ich war irgendwie entrückt und in eine andere, magische, spirituelle Welt geraten, ohne dass ich dies beabsichtigt hatte. Denn ich besuchte ja diese stille Messe eigentlich nur zu dem Zweck, um die Zeit bis zum zweiten Läuten zu überbrücken. Ich war dem Göttlichen nahe. Alles fühlte sich leuchtend und leicht an, ich vergaß alle Alltagssorgen, ich war in einer „Anderswelt“. Als der Priester die Messe nach gut 20 Minuten beendete und den Kirchenraum verließ, war auch für mich diese magische Zeit wieder vorbei.

Vielleicht war es ein göttlicher Trick? Als Junge wollte ich damals offiziell nur Glocken läuten. In den drei Jahren, in denen ich wirklich jeden Morgen zum Läuten fuhr, bekam ich aber eine ziemliche „Packung“ Spiritualität ab. Mir ist beides sehr in Erinnerung geblieben: das Läuten und die magisch-meditative Atmosphäre während der stillen Messen. Ohne bewusst darüber zu reflektieren, bekam ich damals eine Ahnung davon, wie sich das Göttliche anfühlen könnte. Diese Erfahrung ist tief in meine Seele eingedrungen und hat Wurzeln für meine spätere Gottes-Sehnsucht als Jugendlicher und als Erwachsener gelegt. Ich möchte dieses Erleben nicht mehr missen.

 

Das spirituelle Grundproblem: die Ego-Schicht als Hindernis auf dem Weg ins Göttliche

Lieber Leser, spüren Sie einfach in sich hinein, welche besonderen Erlebnisse Sie schon in Ihrem Leben hatten. Ich glaube, Sie werden – bei rechter Betrachtung und Deutung – womöglich auch ähnliche Erfahrungen wie die soeben von mir geschilderte gemacht haben. Solche Erlebnisse können uns Mut machen und Kraft geben, die dicke Ego-Schicht in uns anzubohren, die uns daran hindert, ins Göttliche zu gelangen. Von dieser spirituellen Aufgabe des Menschen erzählen alle großen Religionen auf die eine oder die andere Art und Weise.

Der Begriff „Ego“ taucht heute in vielen spirituellen Strömungen auf, vor allem im Buddhismus. Damit soll aufgezeigt werden, was uns daran hindert, in die göttliche „Ur-Suppe“, ins göttliche „All-Eins“, zurückzufinden, aus der unsere unsterbliche Seele einst herausgefallen und in die Polarität der Schöpfung geraten ist. Das Christentum spricht in diesem Zusammenhang von „Umkehr“, wenn es darum geht, unsere Ego-Gott-Ferne zu verlassen und zum Göttlichen zurückzukehren.

Unsere spirituelle Unruhe kommt daher, dass wir einerseits eine tiefe Sehnsucht nach Glück, nach Harmonie, nach Sinn, nach Unendlichkeit, nach Sicherheit und nach einem höheren Wesen haben. Diese Sehnsucht gehört zu unserem Mensch-Sein, weil wir letztlich von göttlicher Natur sind. Andererseits fühlen wir uns gefangen in den Gesetzen der Polarität oder Dualität der Welt. Dazu gehören neben all den positiven Emotionen und Erfahrungen auch unsere Muster und Prägungen, unsere Sterblichkeit und Vergänglichkeit wie auch Krankheiten, Unglück und das Erleben von Enttäuschung, Gewalt und Lieblosigkeit durch unsere Mitmenschen. Das alles macht diese Ego-Schicht aus, in der wir eingehüllt sind.

In diesem Spannungsfeld zwischen Göttlichkeit und Vergänglichkeit befindet sich der Mensch. Viele von uns sind ungestillte und unausgeglichene Wesen, die aber beständig von einer tiefen Sehnsucht nach dem Höheren, dem Göttlichen, dem Paradies, dem Glück angetrieben werden. Manche sprechen daher auch vom „Kreuz der Wirklichkeit“ des Menschen, um genau dieses Spannungsfeld in uns zu beschreiben.

Den spirituellen Weg zurück zum Göttlichen zu gehen, bedeutet nach Innen zu schauen und wahrzunehmen, dass wir eine dicke Ego-Schicht um uns haben, die unsere Seele umhüllt und verdunkelt und das Licht des Göttlichen in uns abschirmt. Hierin liegt unser spirituelles Grundproblem, weil uns diese „Ego-Schlacken-Schicht“ bedeckt und uns von unserer eigenen wahren göttlichen Natur fern hält. Durch diese Hülle müssen wir jedoch hindurch, wenn wir wieder zum Göttlichen in uns selbst gelangen wollen.

 

Die spirituelle Grundfrage

An dieser Stelle muss jedoch eine andere, grundsätzliche spirituelle Frage gestellt und beantwortet werden. Wenn wir alle in unserer Tiefe göttliche Wesen sind und den göttlichen Funken in uns tragen, weil wir vor langer Zeit im All-Eins, in der göttlichen Ur-Suppe, glücklich und erfüllt, ein Herz und eine Seele mit dem Göttlichen und Teil des göttlichen Bewusstseins waren, warum mussten wir diesen wunderbaren Zustand überhaupt verlassen? Warum durften wir nicht in dieser glückseligen göttlichen Einheit bleiben? Warum mussten wir in die Polarität der Schöpfung mit all ihren Licht- und Schattenseiten, mit dem Guten und Bösen, mit den schönen und den schmerzlichen Erfahrungen eintauchen und hineingeboren werden? Warum mussten wir uns aufgrund der Vergänglichkeit und Sterblichkeit in der dualen Welt so vielen leidvollen Inkarnationen unterziehen und uns dabei eine kräftige „Ego-Suppe“ einbrocken, die es dann mühselig wieder auszulöffeln ist, wie es etwa die Hindus und die Buddhisten annehmen?

Viele weise Menschen haben darauf entweder gar keine oder eher ausweichende Antworten gegeben. Letztlich muss es ein göttliches Geheimnis bleiben, das wir Menschen nur ehrfurchtsvoll und demütig annehmen können. Vielleicht ist die Antwort auch zu einfach für unseren Verstand, der in der Regel alles komplizierter machen will, damit er genug beschäftigt ist. Dennoch möchte ich einige dieser Antworten auf diese spirituelle Grundfrage nennen, wohl wissend, dass sie nur unzulänglich und unbefriedigend sein können:

Das Göttliche wollte sich seiner selbst bewusst werden. Darum ist die göttliche Gesamtseele explodiert in die Polarität, so als ob ein großes, buntes, leuchtendes Rosettenfenster eines mittelalterlichen Doms in Milliarden von Glassplittern zerbirst. Jeder Splitter erinnert an das ursprüngliche runde Fenster. Ebenso bleibt jede Seele, jeder „Seelensplitter“, Teil dieser göttlichen Einheitsseele und trägt die Sehnsucht nach dieser Einheit stets in sich. In den vielen Einzelseelen kann sich jedoch das eine göttliche Bewusstsein erst richtig entfalten und sich zu einer unendlichen Fülle entwickeln.

Das Göttliche wollte mit seiner Schöpfung ein wesensverwandtes Gegenüber für einen vielfältigen und beständigen Dialog. Die Menschen, als Krone dieser Schöpfung, tragen die göttliche Wesensnatur von allen Geschöpfen am stärksten in sich.

Es gibt keinen logischen Grund, warum der göttliche Ur-Punkt explodiert ist, ähnlich wie auch der ganze Kosmos beim Urknall aus einem winzigen Energie-Ur-Punkt. In beiden Fällen bleibt das „Warum“ notwendigerweise Spekulation und Geheimnis. Es ist einfach so.

Die Geburt der menschlichen Seele aus dem einen Göttlichen ist vergleichbar mit einem Embryo, der aus der Mutter kommt. Er muss ab einem bestimmten Zeitpunkt aus dem Leib der Mutter „herausgeboren“ werden, ins Leben gehen und zu einem eigenen Menschen werden, um sich entwickeln und entfalten zu können. Ebenso mussten auch die Seelen, um sich ihrer selbst bewusst zu werden und vielfältige Erfahrungen machen und Lektionen lernen zu können, aus dem einen göttlichen Ur-Punkt herausfließen und zu eigenständigen Wesen werden.

Das göttliche All-Eins ist vor langer Zeit durch eine „Seelen-Explosion“ zu einem göttlichen Tanz aufgebrochen, um seine eigene Fülle auszudrücken, sein Bewusstsein zu entfalten und im freudvollen Tanz der vielfältigen Möglichkeiten unter den Bedingungen der Polarität sich permanent selbst erleben zu können – in jeder einzelnen Menschen-Seele.

 

Eine persönliche Antwort

All diese Antworten versuchen letztlich, ein ur-menschliches Geheimnis zu lüften: woher die Sehnsucht nach dem Höheren, dem Göttlichen, nach umfassendem Glück, nach Harmonie und nach Unsterblichkeit in uns sterblichen und vergänglichen Menschen kommt. Es bleibt ein Geheimnis, warum so viele Menschen lieblos zueinander und zur Schöpfung sind. Wir treiben durch unsere Art zu leben einen fortgesetzten Raubbau mit unserer Erde und schädigen sie irreversibel. Wenn wir zudem die furchtbaren gewalttätigen Auseinandersetzungen in Krisengebieten überall auf der Welt betrachten, in denen sich Menschen der verschiedenen Kriegsparteien gegenseitig foltern, massakrieren und umbringen, dann bekommt man den Eindruck, dass so viele Seelen vollkommen Ego-verdunkelt sind; sie haben ihre göttliche Herkunft aus dem All-Eins, aus der einen göttlichen Ur-Suppe, komplett vergessen. Wir Menschen sind doch alle Brüder und Schwestern.

Meine Antwort auf dieses Geheimnis von Polarität, Dualität und Ego ist so: Ich vertraue darauf, dass die Sehnsucht nach dem Göttlichen in mir stets stärker ist als alle Ego-Verhaftung in Geld, Besitz, Macht, Anerkennung und Konsum. Eine Ahnung vom Göttlichen habe ich schon früh als kleiner Junge bei den stillen Messen in der Dorfkirche bekommen. Dieses und andere Erlebnisse motivieren mich bis heute, immer wieder die Ego-Schicht nach innen zu durchbrechen auf dem Weg zurück ins Göttliche in mir selbst.

 

Peter Maier
(Lehrer für Physik und Spiritualität)
Peter Maier, „Heilung – Initiation ins Göttliche“, ISBN 978-3-95645-313-7 (18,99 €, Epubli Berlin, 2. Auflage)
Nähere Infos und Buch-Bezug unter:
www.initiation-erwachsenwerden.de