JOSEFINE MÜLLERS
Die Thematik des Göttlichen im Menschen ist so alt wie die Menschheit selbst, denn sie berührt die Frage nach der Selbst-Vervollkommnung und der Unsterblichkeit. Im Laufe der Geschichte und der verschiedenen Kulturen und Religionen gab es darauf die unterschiedlichsten Antworten. Sei es der Atman der Inder, die Buddhanatur der Buddhisten, der zum Sahu geläuterte Ba¹ der alten Ägypter, der Nous der altgriechischen Philosophen, die Sefira2 der Kabbala, der innere Christus der christlichen Mystik oder schließlich das Geistselbst, immer geht es um dieses Göttliche und darum, wie man es aktivieren bzw. bewusst machen kann. Goethe dichtete, eingedenk der alten kosmischen Grundregel, dass Gleiches nur von Gleichem erkannt werde, den bekannten Vierzeiler:
»Wär nicht das Auge sonnenhaft,
Wie könnten wir das Licht erblicken?
Lebt nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
Wie könnt uns Göttliches entzücken?«
Heute, auf der Schwelle zu einer neuen Evolutionsstufe der menschlichen Gattung – dem kosmischen Menschen – ist die Frage nach der Bewusstwerdung dieses Göttlichen drängender denn je geworden. Was bedeutet es zu erwachen, aufzusteigen zu einem neuen erweiterten Bewusstsein?
Der Mensch, der hineingestellt ist in die Ordnung der Reiche der Natur und des Kosmos, nimmt eine Mittlerstellung ein zwischen der erschaffenen und der erschaffenden Welt. Mit seiner Physis gehört er – wie auch die physischen Reiche der Mineralien, der Pflanzen und der Tiere – zur Natur, zur Welt des Erschaffenen, aber mit seiner schöpferischen Kraft ragt und wächst er hinein in die geistig-kosmische Welt des Gebärens und Erschaffens. Diese ist die Welt des Hohen Selbst, der Engel und des Christus- und Meisterbewusstseins. Des Menschen Aufgabe liegt darin, diese beiden Welten, welche (durch eine dualistische Wahrnehmung getrübt) getrennt erscheinen, durch einen Akt reinen Bewusstseins wieder zu versöhnen.
Was in vielen Mythen und Religionen als Abwendung von Gott, als Fall oder Sündenfall des ursprünglich reinen, paradiesischen Menschen beschrieben wird, bezieht sich auf das Irdischwerden der Seele. Die Seele inkarniert sich als Mensch auf der Erde. Mit diesem Irdischwerden ist zugleich der freie Wille gegeben. Der göttliche Geist wollte sich in immer dichterer Materie selbst lieben und erkennen, diese Materie beseelen. Und auf diesem Wege – auch Involution genannt – prägte er sich der Stofflichkeit immer mehr ein. Dieses Hinabsinken in immer dichtere Dimensionen der Stofflichkeit hatte jedoch zur Folge, dass der menschliche Geist schließlich sein eigenes Wesen vergaß, seinen Ursprung aus Gott und seiner unendlichen Liebe. Durch die Zentrierung im Irdischen, die Anbindung der menschlichen Sinne an die Welt der Erscheinungen und des menschlichen Verstehens an die diskursive Arbeitsweise des Verstandes und die lineare Zeit, verstärkt sich das Bewusstsein von Dualität. Welt und Gott, Leben und Liebe, Ich und Anderes erscheinen nun als unwiderruflich getrennt. Der Psyche des Menschen prägen sich Gefühle des Verlustes und der Verlassenheit ein, woraus Ängste erwachsen. Angst aber vermindert die energetische Schwingungsfrequenz des Ätherleibes, was einerseits Leiden und Krankheit zur Folge hat. Ein anderes ist, dass durch die dualistische Sicht Urteile mit ins Spiel kommen. Mit dem Sündenfall, so heißt es, ist die Unterscheidung von Gut und Böse gegeben, denn das Essen vom Baum der Erkenntnis bewirkt ja eben diese unterscheidende Erkenntnisleistung. Als Funktion innerhalb der Zeitlichkeit hat sie auch ihren Sinn. Denn einerseits macht das zeitlich-dualistische Bewusstsein erst das Lernen und die karmische Erfahrung auf der Erde möglich, andererseits bewirkt der ordnende Verstand, dass der nach Orientierung strebende Mensch sich in der irdischen Welt zurechtfindet.
Allerdings bildet die lineare Zeit eine Dimensionsgrenze, so dass das linear ausgerichtete Verstandesurteil immer nur zu relativen Wahrheiten gelangen kann, deren Geltungsbereich sich auf die physisch-irdische Ebene beschränkt. Um tieferes Verständnis zu erlangen, ist jedoch ein Blick hinter den Vorhang vonnöten. Denken wir nur allein an die vielen Inkarnationen, die eine Seele vollzog; wie sollte es dem verstandesmäßigen Begreifen möglich sein, ohne diesen Hintergrund die Gefühle und Handlungen eines Menschen wirklich zu begreifen oder gar sie zu beurteilen? Es erkennt ja nicht den dahinter liegenden Sinn. Wird irdisch-menschliches Urteilen zum alleinigen Bewertungsmaßstab, kommt es unweigerlich zu Fehlurteilen. Vorurteile und Abwertungen anderer Menschen, seiner selbst und des Schicksals überhaupt können die Folge sein. Hierin liegt die Gefahr, dem Ego und seinen Illusionen Vorschub zu leisten und bloßes Meinen und Vorstellen zur absoluten Wahrheit zu erheben.
Oft ist es aber gerade die innerhalb der Endlichkeit erfahrene Sehnsucht nach Ganzwerdung und Erlösung, welche die erneute Hinwendung der Seele zu Gott, den Prozess ihrer Geistwerdung, in Gang setzt. Es ist dies eine Entwicklung, welche einem Werden im Sein, im Ewigen, gleichkommt. Um diesen Prozess – auch Evolution genannt –, geht es: um den Aufstieg der Seele zu Gott, die Bewusstwerdung des göttlichen Geistes im Menschen und in der Materie. Der göttliche Geist kann als Logos (gr. Sinn, Wort) begriffen werden und ist im johanneischen Sinne zugleich die Ewige Liebe.
Gott schuf den Menschen nach seinem Ebenbild und Gleichnis, heißt es in der Genesis. Die erneute Angleichung an Gott bzw. an göttliche Bewusstheit ist das nicht ausgesprochene Ziel, das Telos der Seele. Jedoch sollte sich diese Angleichung nicht als selbstmächtiger Akt des Ego-Selbst vollziehen, sondern als ein Wandlungsprozess im Lieben des Menschen bzw. seiner Seele. Das Empfangen des Göttlichen erfordert ein demütiges, offenes Herz, das frei von Ego-Bestrebungen und bereit ist, sich höheren Zwecken unterzuordnen und diesen zu dienen. Die Idee der Vergebung und Versöhnung ist damit unabdingbar verknüpft. Der eigentlichen geistigen Neugeburt geht eine Umkehrung des Blickes voraus, die darin besteht, ein neues Erkennen einzuüben: den Menschen von seinem Wesen, von seiner Gottverwandtschaft her zu sehen und nicht länger aus einer Optik des Irdisch-Vergänglichen. Diese neue Daseinsstufe bezeichnet die christliche Terminologie auch als Sterben des alten Adams und als das Anziehen eines neuen Menschen.
Das Werden des neuen Menschen umfasst auch andere Sphären und Dimensionen, andere Seinsweisen des Logos. Um hier größere Bewusstheit zu erlangen, führt der Weg über die feinstofflichen Ebenen. Es ist ein Weg des Herzbewusstseins. Um feinstofflich wahrnehmen und kommunizieren zu können, müssen die Sinne des geistigen Herzens oder feinstofflichen Menschen ausgebildet sein. Erst dann ist er in der Lage hellzufühlen, hellzuhören, hellzusehen usw. Gleichzeitig muss das Dritte Auge aktiviert sein, das mit dem Herzen in Verbindung steht. Erst nun können Herz und Seele(n) in bewusster Weise zusammenwirken. In dem Maße, wie der Mensch mit dem Herzen zu erkennen beginnt, entfaltet sich ein Anderes seiner selbst – als Gnadeneinwirkung innerer Wahrheitserkenntnis – seine Anima an ihm. Diese ist die ontische Ebene der Seele, die Seele als Fühlen, die man auch als die weibliche Seite der Liebe Gottes bezeichnet. Der Mensch wird sich seiner Verbindung mit den Reichen der Natur auf neue Weise inne: Er erkennt, dass Mineralien, Pflanzen, Tiere, alle kosmischen Wesenheiten und auch er selbst Geschöpfe Gottes sind. Alles lebt, aller Ausdruck atmet den Geist Gottes, ist seinem Wesen nach unendliche Liebe, ist Herz-Bewusstheit. Es handelt sich um eine Ebene des ätherischen Geistes, welche die Seelen als Substanz, als Leben, betrifft. In unserer Ich-bin-Natur bilden wir mit allem, was ist, eine Einheit, den Lebensgrund. Wir können diesen nicht verstandesmäßig erfassen, er ist gleichsam ein nicht zeitlich begriffenes vorgängiges Sein, insofern Unbewusstes.
Dennoch kann sich das Fühlen, die ontische Seele, im Menschen ihrer selbst bewusst werden. Indem die Seele sich in einem Akt geistigen Liebens und Erkennens, einem urbildhaften Schauen, über sich selbst beugt (lat. reflectare) und sich ihres inneren Lichtes als Wahrheit Gottes, Schönheit des Grundes und himmlischer Schicksalsharmonie innewird, wird sie unsterblich, wird sie Geist. Sie wird zum Geistselbst. Platon nennt diese Rückbesinnung der Seele auf ihr göttliches Wesen Anamnesis, die Wiedererinnerung der Seele an vormals (präexistent) geschautes Schönes, die besonders in der Liebe zu einem anderen Menschen und im reinen Erkenntnisstreben aktiviert wird. Alles, was einmal geliebt wurde, kann wiedererkannt werden, denn es ist ewig geworden und lebt im Lebensgrund. Es ist nun durch Frequenzerhöhung der ätherischen Ebene in die pneumatische Ebene (Pneuma = gr. Hauch, Geist), die Ebene des Höheren Selbst oder Geistselbst, übergegangen. Diesen Integrationsprozess nennen wir Sinnen der Seele, denn es konnten Aspekte aus dem vorgängigen Sinn – der Ebene des Erschaffenden – aktiviert und in das Selbst integriert werden.
Das Sinnen der Seele ist die Wirkweise des Geistselbst und bestimmt als Mitschöpferebene das Schicksal des Menschen maßgeblich. Es ist an keine lineare Zeit gebunden. Es existiert simultan und drückt sich in vielen Aspekten der unterschiedlichen Seinsebenen und Dimensionen zugleich aus. Die Seinsebenen des Logos (der Ewigen Liebe oder Göttlichkeit) sind die physische Sphäre, die Astralsphäre, die Mentalsphäre und die Kausalsphäre, an denen der Mensch jeweils mit seinen entsprechenden Körpern und ihren Chakren teilhat. Ätherleib, Astralleib, Mentalleib und Kausalleib sind Träger des jeweiligen Bewusstseins und richten sich nach den in der entsprechenden Sphäre vorherrschenden kosmischen Gesetzlichkeiten aus: In der Astralsphäre lebt Geist als Empfindung, in der Mentalsphäre als Erkenntnis und in der Kausalsphäre als Mitschöpfertum. Jede einzelne Sphäre bringt je nach Öffnung der Chakren wiederum einen siebenstufigen Erkenntnisfortschritt im Hinblick auf das Göttliche hervor3.Die Stufen bilden Dimensionen, welche den Schwingungsraten entsprechen: je höher die Schwingungsrate, desto größer ist die Bewusstheit Gottes – des Sinnes oder der absoluten Schönheit (Kausalebene), der Wahrheit (Mentalebene); der Güte und des Mitgefühls (Astralebene) – je niedriger die Schwingungsrate, desto unbewusster das Göttliche.
Es geht nun darum, im Sinne einer Selbst-Vervollkommung ein interdimensionales Selbst zu entwickeln. Das heißt, es werden durch Blockaden und Verstellungen des Ego-Selbst unbewusst gebliebene Aspekte des Liebens (des Göttlichen) aus den unterschiedlichen Sphären und Dimensionen in die Individualseele des Menschen bzw. in sein Herz gespiegelt. Damit der Mensch sein Lieben erkennt und es dem Lieben Gottes anverwandelt, bedarf es der Selbst-Erkenntnis, denn der Schnittpunkt dieses Liebens ist das Selbst. Das Selbst ist gleichsam ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält: als Transzendentes ist es (noch) Idee in Gott – oder Anderes im Selbst – und als Immanentes ist es Geschöpf. So kann das Selbst beispielsweise im Träumen als Spiegel fungieren, welcher sich selbst anschaut. Dieser Spiegel reflektiert das Lieben des Menschen, sein Herz, misst es an der Idee des Menschseins, welche als göttliche Liebe in ihm wirkt. Dieses Messen, eigentlich ein urbildhaftes Schauen, findet seinen Niederschlag im Sinnen der Seele, welches sich in Symbolen des Ewigen ausspricht. Das Arbeiten mit den Träumen stellt eine Möglichkeit für den Menschen dar, sein Selbst, und das heißt zugleich das Lieben des Göttlichen, mehr und mehr zu erkennen.
Da das Selbst auch die Instanz intuitiver Erkenntnis darstellt, ist mit der Selbst-Erkenntnis zugleich das Zentralproblem produktiver Einbildungskraft und des Schöpferischen überhaupt berührt. Das innere Licht der Seele ist die Schöpferkraft Gottes im Menschen, die sich durch das Individuum Ausdruck verleihen möchte. Die aktivierte Schöpferkraft betrifft den Animus oder die ontologische Ebene der Seele, die Geist gewordene Seele. Sie bezieht sich auf das Denken oder Sinnen der Seele. Wird sich dieses im Menschen bewusst, so hat er einen Aspekt des Geistselbst oder Höheren Selbst aktiviert, welcher sich in der Funktion des inneren Lehrers oder Geistführers manifestieren kann. Das bedeutet, dass das Sinnen des Menschen mit dem Sinnen der Seele Eines wird. Daraus entwickelt sich eine neue Sprachform, welche der intuitiven Erkenntnis Wirkung verleiht. Die produktive Einbildungskraft des ganzheitlich erfassenden Dichters empfängt aus diesem Bereich. Dichtung wird hier zum Ausdruck des Ganzheitsdenkens oder mit dem Herzen Denkens.
Wie dichtete doch wunderbar und sehr wahrhaftig Joseph von Eichendorff in seinem Gedicht »Wünschelrute«:
Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.
Den vielfältigen Sangarten dieses immerwährenden, unendlichen Liedes mit der »Wünschelrute« der Dichter nachzuspüren und diese bewusst zu machen, ist eine lohnende Lebensaufgabe, welcher ich mich von ganzem Herzen widme. ✦
1) Der Ba ist die vogelgestaltig dargestellte Seele (eine Art Hauchseele, die in etwa dem Astralleib entspricht), die in der Einweihung bzw. auf der Jenseitsreise zum Sahu, zum »glorreichen Körper« (Erleuchtungskörper) geläutert wird.
Vgl. dazu im Detail: Josefine Müllers, Amor und Psyche. Das Mysterium von Herz und Seele, Frankfurt a. M. 2011, S. 24 ff.
2) Die Sefira des Sefirot-Baumes stellen Attribute bzw. Manifestationen Gottes dar. Die Chochma ist als Weisheit Gottes Uranfang aller Dinge und entspricht in etwa dem griechischen Logos (s. weiter unten).
3) Vgl. hierzu den in dieser Ausgabe des Lichtfokus abgedruckten Märchen-Auszug »Alma und das Einhorn«.
Dr. Josefine Müllers: Literaturwissenschaftlerin und Philosophin, lebt in Überlingen am Bodensee als freischaffende Autorin und spirituelle Lehrerin.
Veröffentlichungen: Zu Goethe, zu Hölderlin, zu »Amor und Psyche«, zum Märchen, zum Traum, zum Selbst, zu den Engeln; außerdem Lyrik, Märchen und Initiationsgeschichten, Parabeln und andere Kurzprosa. Kontakt: Jasophia@gmx.de