Alma und das Einhorn

JOSEFINE MÜLLERS

 Auszug: Erschienen im Lichtfokus-Magazin # 47/ Herbst 2014

 

Was bisher geschah: Almas Vater, der alte weise König, ist sehr krank geworden und mit ihm das ganze Reich der Menschen. Diese haben sich an den Reichen der Natur vergangen, was deren Absonderung und Rückzug von den Menschen zur Folge hatte. Alma macht sich auf den Weg, um heilendes Wasser aus dem Lebensbrunnen im Land der Liebe und der Ideen zu besorgen. Dieses soll ihren Vater heilen und wird noch vieles Andere bewirken. Auf ihrem Weg hat Alma manche Prüfungen zu bestehen. Die schwierigste ist die hier folgende:

Bald gelangte sie an den breiten Fluss, von dem ihr der Zwergenkönig erzählt hatte. Er war in der Tat so breit, dass man das andere Ufer kaum ausmachen konnte. Mit wilden Wellen schäumte er hoch in seinem Bett auf, und an den Ufern toste eine mächtige Brandung. Weder Kahn noch Fährmann waren zu sehen.

Doch als Alma weiter nach irgendeiner Möglichkeit Ausschau hielt hinüber zu gelangen, bildete sich langsam vom anderen Ufer her, wo die Sonne noch scheu durch die schweren Gewitterwolken linste, ein wunderschöner Regenbogen und reichte bis an das diesseitige Ufer hin. Er verband aber nicht, in gerader Weise nach Drüben führend, die beiden Welten, sondern spannte sich längs von einem zum anderen Ufer, so dass man, wollte man auf ihm hinübergehen, zuerst den dunkelroten Lichtstrahl und dann alle weiter folgenden Strahlen betreten musste.

Alma zögerte. Was würde sie erwarten? Würde ihr nicht schwindelig in dieser luftigen Höhe, und würde sie nicht kläglich in dem wilden Fluss ertrinken, wenn sie ins Rutschen käme und hinabstürzte?

Da hörte sie plötzlich innen in ihrem Herzen eine Stimme, die ihr Folgendes sagte: „Liebe Alma, hab’ keine Angst, ich bin dein Engel. Ich bin bei Dir und beschütze dich. Zwar kann nur ein Mensch mit einem leichten Herzen, das nicht durch böse Taten beschwert ist, diesen Regenbogen betreten, sonst würde er sofort, von der Last des Dunklen verfinstert, zusammenbrechen, und der Mensch würde haltlos in die Tiefe und den breiten Fluss sinken, aber du kannst es. Habe nur Mut! Lass keinen Zweifel in dir hochkommen! Jeder Strahl, den du betrittst, wird eine Frage an dich richten. Grüble nicht mit deinem Verstand über die richtige Antwort nach, sondern antworte getrost das, was dir ganz spontan in den Sinn kommt. Dann wird dir nichts passieren, und die Regenbogenbrücke wird halten und dich in das andere Reich führen.“ Alma hatte genau der Stimme ihres Engels gelauscht und begann nun, die Brücke hochzugehen.

Als sie den ersten tiefroten Strahl betrat, begann dieser unter ihren Schritten zu erzittern und zu glühen. Ein dunkel schwingender Ton erklang, und darin machte sich eine tiefe, gewaltige Stimme hörbar: „Wann war der Anfang von allem?“ schallte es laut und hallte in Almas Seele wider. „Das Leben hat weder Anfang noch Ende, es ist unendlich und wird immer sein“, gab Alma schnell zur Antwort und war selbst erstaunt über ihr Wissen.

Ohne Probleme konnte sie auf den orangefarbenen Strahl wechseln. Auch dieser erzitterte und erglühte unter ihren Schritten, und aus dem etwas höher klingenden Ton erklang eine weiche weibliche Stimme und fragte: „Was ist das Tiefste in deinem Erinnern?“ „Der Seele Gedächtnis ist weit und tief. Alles, was war, und alles, was sein wird, ist in ihrem Erinnern geborgen“, entgegnete Alma.

Auch diesmal erschrak Alma fast über ihre eigene Antwort. Aber schon war sie bei dem dritten, weizengelb leuchtenden Strahl angelangt, der bei ihrem Betreten ein freundliches Lachen erschallen ließ, aus dem die Frage hervorquoll: „Was ist die Mitte allen Lebens?“ „Humor und Gleichmut und heiteres Lachen bringt alles Leben in seine Mitte“, ertönte es freudig aus Alma.

Der dann folgende grüne Strahl schien bei Almas Ankunft schon leise zu erzittern, und eine freundliche, wohl klingende Stimme, die sich wie die Stimme eines fröhlichen Knaben anhörte, war deutlich vernehmbar: „Was ist das Geheimnis des Herzens?“ fragte sie und ein Schall wie von lauter kleinen, fein klingenden Glöckchen hallte nach und stieg bis in Almas eigenes Herz auf. „Die Liebe, die Liebe in allen Gewändern, und Glück über die Freude sich zu erkennen“, schallte es prompt aus diesem zurück. Der grüne Strahl schien sich über diese Antwort maßlos zu freuen, denn er erstrahlte vor ihr in seiner ganzen grasgrünen Helligkeit und gab beschwingt den Weg zu dem hellblau schimmernden Strahl frei.

„Was bringt dich voran auf deinem Weg?“ fragte dieser deutlich mit klarer Stimme. „Mich zu sammeln zu geistiger Klarheit, die mich durch Sprache mit andern verbindet“, ließ Alma verlauten, und auch der hellblaue Strahl schien es zufrieden zu sein, denn auch er leuchtete in seiner ganzen Klarheit auf und wies Alma den Weg zu dem dunkelblauen Strahl, der sie fast wohlig in sein schimmerndes Licht hüllte, als sie ihn betrat.

Eine dunkle, aber feine Melodie erklang wie aus weiter Ferne und schien Alma an etwas zu erinnern. „Was erweckt der Seele Erinnerung?“ wollte der Strahl wissen, und seine Stimme klang sanft und eindringlich. „Die Schönheit, die Schönheit ist es gewiss, sie erinnert die Seele an ihren Ursprung“, sprach Alma und schien mit dieser Antwort genau in die Mitte zu treffen, denn sie fühlte, wie sich vor ihrem inneren Auge ein Vorhang hob, der den Blick auf ein wunderschönes Bild freigab.

„Und wo ist dein Ursprung?“ fragte nun bei seinem Betreten der lilafarbene Strahl in freudiger Erwartung und strahlte tief in Almas Seele hinein. „Der Ursprung der Seele ist ewig bei Gott, dessen Bild wir in unserem Inneren tragen“, antwortete sie. Der Strahl glänzte auf einmal in allen erdenklichen Farben, die sich in glänzenden Lichtfunken um Almas Leib anordneten, so dass sie selbst in allen Regenbogenfarben zu strahlen begann.

Ein Kranz aus weißer Myrte wurde ihr von dem Engel des siebenten Strahls auf das Haupt gedrückt, dem Engel, den Alma nun freudig als den sie leitenden Schutzengel erkannte, der in ihrem Herzen zu ihr gesprochen hatte.

Der Engel führte Alma nun in das Zauberreich der Liebe und der göttlichen Ideen, in dessen Mitte der Brunnen mit dem Lebenswasser stand. „Ich verlasse dich hier“, sagte der Engel freundlich, „du bist nun reif zu tun, wozu du berufen bist von jeher, nach dem Los der Seelen. Tu es getrost, und erinnere dich immer: Solange du liebst, bist du niemals allein“. Daraufhin verschwand der Engel, und Alma stand mit dem Myrtenkranz im goldenen Haar da und wartete auf das, was nun kommen sollte. ✦

Wie es weiter geht: Bevor Alma aus dem Lebensbrunnen schöpfen kann, hat sie eine wunderbare Begegnung, die ihr Leben und das aller anderen Wesen grundlegend verändern wird …

 

Josefine-Müllers


Dr. Josefine Müllers: Literaturwissenschaftlerin und Philosophin, lebt in Überlingen am Bodensee als freischaffende Autorin und spirituelle Lehrerin. Veröffentlichungen: Zu Goethe, zu Hölderlin, zu »Amor und Psyche«, zum Märchen, zum Traum, zum Selbst, zu den Engeln; außerdem Lyrik, Märchen und Initiationsgeschichten, Parabeln und andere Kurzprosa. Kontakt: Jasophia@gmx.de