Abstieg in den Himmel

Die Menschen haben es irgendwie zuwege gebracht, Seine Größe und Seine Herrlichkeit zu vergessen. Aus diesem Grunde stellt Er einige Menschen in die Welt, die die Vergesslichen daran erinnern, dass die Fülle Seines Segens, der Springquell alles Lebens ist. (Shri Anandamayi Ma)
Marion Musenbichler

Erschienen im Lichtfokus-Magazin Nr. 53/ Frühling 2016 

Wir setzen alles daran, um uns Wissen anzueignen, das uns weiterbringen könnte. Was uns weiterbringt, bringt uns aber nur weiter von uns weg. Es führt uns fort, entfernt uns von purer Anwesenheit. Wenn wir uns vornehmen, irgendwohin zu gelangen, ist das eigentliche Jetzt nicht mehr gegenwärtig. Wir wollen etwas erreichen oder vorwärts kommen. Wir möchten aufsteigen. Wohin? Die Karriereleiter hoch; oder gar in den Himmel, wo Erwachen auf uns wartet? Erwachen ist ein Abstieg. Ein Abstieg in den Himmel. Dies ist weder bedrohlich, noch hat es etwas mit einer Hölle zu tun. Es steht für Ernüchterung, Rückzug und Menschlichkeit. Sich fallen lassen, ist kein Verzicht und kein Niedergang, kein Aufprall, der schmerzhaft oder entwürdigend ist. Der Fall im unbekannten Mysterium erfolgt durch eine schlichte, unspektakuläre und ernüchternde Einsicht, die zweifellos heilig ist. Ein unwillentliches Loslassen mit offenem Herzen ist kein Vorgang, es geschieht.

Wir laufen von Seminar zu Seminar, hangeln uns von einem Buch zum anderen und sind ständig darauf erpicht, eine Lösung für unsere Probleme zu finden. Am besten sollte es die Lösung, und zwar die eine Lösung sein, die unsere Probleme ein für alle Mal auslöscht und uns ein sorgenfreies und bequemes Leben beschert. Am besten sollten nur die Aspekte des Lebens verschwinden, die wir nicht so gerne mögen. Was uns belastet, muss weg, was uns erfreut, darf bleiben. Dann könnten wir weitermachen wie bisher. Macht das Sinn?

Wir wissen, was wir wollen und was wir nicht wollen, doch wozu etwas wollen? Gehen wir davon aus, dass sich das Leben ganz von selbst lebt und die Dinge einen Ablauf haben, der unwillkürlich – ganz ohne unserem Zutun oder unserer Passivität – stattfindet, inwieweit wären dann Wollen oder Nichtwollen noch attraktiv? Hätten sie noch einen Stellenwert? Wir streben nach dem, was uns von Nutzen ist und was wir gebrauchen können. Das Leben ist aber keine Kosten-Nutzen-Rechnung, es ist mehr als das.

In Indien ist Meditation eine Lebenseinstellung. Hier in unseren Breitengraden meditiert man oftmals nicht nur um zu meditieren, sondern um ruhiger zu werden, um zu erwachen, letztendlich, um etwas zu erreichen. Meditation ist also Mittel zum Zweck. Ich meditiert. Wie will es den Schleier der Unwissenheit loswerden, wo es doch selbst dieser Schleier ist. Wo das selbsterschaffene Drama unter dem Deckmantel des Ichs den Anschein hat, existent zu sein, mutiert der Schleier zum eisernen Vorhang und scheint unüberwindbar zu sein. Er lässt sich nicht einfach so weg meditieren.

Wie gerne wollen wir etwas ändern, aber sagen lassen wollen wir uns nichts. Belehrungen sind etwas für andere, untergraben unsere Autorität und stellen unsere Kompetenz in Frage. Wir wollen keinen Lehrer? Vielleicht sehnen wir uns unbewusst nach einem Ent-Leerer, nach jemandem, der uns von all den Irrtümern, Einbildungen, Missverständnissen und Fehlsichten, von Ignoranz, Lieblosigkeit und Unklarheit befreit. Zu einem Guru zu gehen, wirkt erstmals befremdend. Vielleicht fühlt man sich hingezogen oder lehnt es strikt ab. „Ich brauche keinen Guru!“, sagt der Verstand. Das stimmt! Einen Guru kann man nicht brauchen, man kann ihn nur lieben (Mario Mantese – Meister M). Der Guru zieht den aufrichtig Suchenden nach innen. Er ist das, was uns normalisiert und entdecken lässt, dass es keine Unordnung gibt und in unserem Leben, in dieser absoluten Ordnung, wirklich alles in Ordnung ist. Auch wenn wir ihn im Außen als etwas von uns Getrenntes erfahren, so ist er doch in uns. Schon Goethe sagte: Nichts ist drinnen, nichts ist draußen; denn was innen ist, ist außen.

Warum nur gibt es so wenige am Hofe eines Meisters oder Heiligen? Weil du jedes Mal, wenn du in Seine Nähe kommst, Stücke deines Egos zurücklassen musst, die Er dir nicht zurückgeben wird! (Shamseddin Mohammed Hafiz)

Was sich nicht fassen, manipulieren und konsumieren lässt, ist frei von jeglichem Nutzen. Auch können wir nichts vorantreiben oder kompensieren. Das Erlebte, das sich in Bezug zu uns mit verändert, entwickelt seine eigene Dynamik, die von uns abhängig ist. Wir begegnen uns selbst. Wir erleben uns in einer Welt, die wir außerhalb von uns wahrnehmen und neigen dazu, im Sichtbaren stecken zu bleiben. Wenn sich ein Vater zur Karnevalszeit als Gespenst verkleidet und seinem Kind zuwinkt, wird es weinen. Es kann ihn nicht erkennen. Das unbenennbare und unfassbare Eine zeigt sich in unzähligen Kostümen. Diese eine Kraft pulsiert im Kleinen wie im Großen, sie lässt sich nicht bemessen. Die Sinne spalten das große Ganze über die Erfahrung auf und reduzieren es auf Teile. Licht verwandelt sich in eine sonderbare Dunkelheit, doch dies nur zum Schein. In dieser Isolation kann sich nur das absondern, was es nie wirklich gegeben hat. Was kommt und geht, hat keine Substanz. Wird das Vergängliche als Farce entlarvt, kommt das Unvergängliche zum Vorschein. Der Mensch ist so viel mehr als er glauben und denken kann. Das, was wir denken können, können wir nicht sein. Wir sind doch kein Hirngespinst.

Gedanken und Gefühle kommen und gehen. Sie sind nicht von Bestand und somit nicht ewig. Nur das Ewige kann als die eine Realität bezeichnet werden, auch wenn „das Ewige“ nur eine Worthülse ist und niemals das Ewige selbst sein kann. Wir alle kennen das: plötzlich übermannt uns ein Gefühl, dass uns die Brust enger schnürt. Wir bekommen kaum Luft, ein schwerer Stein scheint uns zu erdrücken. Es sind die Betroffenheit und das Bezug nehmen, die Gefühle zum Gegner erklären. Gefühle sind vom Fühlenden nicht betroffen, er fühlt sich betroffen. Gefühle sind das, was sie sind, Gefühle. Sie sind nicht das, was wir sind. Gefühle sind schmerzvoll, wenn wir uns auf sie einlassen. Es ist wie mit den Gedanken. Bitten wir jeden Gedanken herein und spielen den Gastgeber, haben wir ihn eingefangen, nicht er uns. Er kann zum heiligen Instrument werden, wenn wir klar erkennen, dass es das Nachdenken ist, das eine Situation aufgrund von Widerständen und Ängsten zum Problem erklärt. Ohne Nachdenken fallen Probleme wie ein Kartenhaus in sich zusammen, weil dem Haus die Karten entzogen wurden. Das Denken erschafft und belebt Gegebenheiten, die wir als problematisch bezeichnen, wenn wir ihnen Bedeutung beimessen. Indem wir uns auf sie beziehen, verleihen wir ihnen Gewicht, obwohl sie gar nichts wiegen. Die Identifikation mit dem Ich ist die Basis aller Unstimmigkeiten. Das Ich selbst ist der Brandherd aller Behinderungen. Es ist das hohle Fundament des Ich–Gedankens, auf dem sich eine Existenz errichtet, die in Frage gestellt werden soll. Alles ist gut wie es ist, doch immer anders als wir glauben. Schon Buddha sagte, dass die Welt völlig in Ordnung sei, aber der Betrachter Unordnung in sie hineininterpretiert, weil er unfähig ist, das Leben so anzunehmen wie es ist.

Wozu etwas ändern wollen, wo es doch so ist wie es ist. Wäre es nicht anders, wenn es anders sein sollte? Und ist es überhaupt so, wie wir es erleben? Kann unsere Sicht der Dinge, die Dinge sein? Ganz gleich, was zu uns dringt, wir können es durch den Schleier der Verblendung nur gefiltert wahrnehmen. Verblendung hält uns davon ab innezuhalten. Da ist kaum Platz zur Innenschau. Setze dich hin, als wäre es die größte Heldentat des Jahres einen Sessel auszufüllen. Atme durch. Werde still. Beraube Gedanken nicht ihrer Natur. Lass sie Gedanken sein. Deformiere sie nicht. Es sind Gedanken. Gedanken kommen und gehen. Das haben sie so an sich. Uns ist eingetrichtert worden, dass der Verstand zur Ruhe kommen muss, damit wir in tiefere Schichten vordringen können. Diese Theorie setzt voraus, dass Verstandesaktivitäten und Erwachen miteinander in Bezug stehen. Es mag sein, dass es ruhiger wird, wenn das Denken still ist. Das besagt aber nur, dass im Moment keine Verstandesbewegungen stattfinden. Bewegungen können den unbewegten Geist niemals berühren. Wie soll eine Verstandesbewegung oder die Abwesenheit dieser auf den Geist eine Wirkung haben? Geist kann nicht erkannt werden. Er erkennt sich selbst, ohne die Welt zu kennen.

Der, der Entspannungsübungen praktiziert, ist nicht der Praktizierende, sowie der Maler nicht der Malende ist. Wenn es dran ist zu malen, stellt sich Malen ein. Wenn nicht, dann nicht. Die Dinge ergeben sich, niemand tut sie. Handeln entspringt immer einer nicht ortsgebundenen Quelle, die für einen Verstand, der von Interpretationen, Annahmen und Vermutungen gespeist wird, nicht nachvollziehbar ist. Das Leben lebt sich selbst (Mario Mantese). Alles geschieht, ohne getan zu werden und in völliger Abstinenz einer Täterschaft. Und doch sind wir überzeugt, dass eine sich auf und ab bewegende Hand der Beweis dafür ist, dass wir malen. Ja, wir malen, doch dieses Wir gilt es zu hinterfragen, wenn wir den Sprung ins Unendliche wagen wollen. Dieser Sprung wird keine Bruchlandung sein. Es ist ein endloses Fallen in der Ewigkeit. Haben wir keine Angst. Sie ist es, die es zu durchwandern gilt. Auch Angst wandelt sich in Liebe, da alles aus Liebe geboren ist. Du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand. Finde heraus, was sich hinter dem Wort Gott verbirgt und vergiss nie, dass alles was geschieht, stets das Beste ist. Du bist das, was geschieht.

Ich schwamm mit einigen anderen im Meer und plötzlich kam ein Sturm auf. Die heftigen Böen waren so mächtig und stark, dass alle von einer Panik heimgesucht wurden. Sie schwammen zurück zum Ufer, doch ich sah ganz klar, dass ich nichts ausrichten konnte. Da spürte ich, dass ich mich nur ganz hingeben kann und das tat ich auch. Ich vertraute auf Gott und überliess mich den Wellen. Und in dem Moment, wo ich das tat, verschwand mein Unbehagen und mitten im rauen Ozean wurde ich von Wogen einer unbeschreiblichen Glückseligkeit übermannt. Diese Wellen trugen mich wohlbehütet zum Ufer zurück. Dort wurde ich an Land gespült und traf auf die anderen. Ein Mann lag am Strand und hatte sich das Rückgrat gebrochen. Seine Schmerzen schienen schier unerträglich und so sprachen ihm einige Menschen gut zu. Sie beteuerten die Launen des Meers und trösteten ihn. Friedvoll und voller Gleichmut erwiderte er: „Nicht das Meer hat mir das Rückgrat gebrochen, sondern die Angst.“ Frei zitiert nach Gurumayi Chidvilasananda (Siddha-Tradition)

Marion Musenbichler